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REINHARD MEY – In Aschaffenburg – Die wiedergefundene Tournee 1992

2024 (Odeon) - Stil: Songwriter/Liedermacher

Im März 1992 veröffentlicht Reinhard Mey sein 17. Studioalbum mit dem Titel ´Alles geht!´. Bis in das darauffolgende Jahr absolviert er in Deutschland 60 Auftritte der “Alles-geht-Tournee”. Anschließend übergibt ihm Manfred Leuchter zwei Kassetten mit dem digitalen Mitschnitt einer Show, doch nach dem aufkommenden Trubel bei Tour-Abschluss gehen jegliche Gedanken an die Kassetten unter.

Im Mai 1994 veröffentlicht Reinhard Mey sein 18. Studioalbum mit dem Titel ´Immer weiter´ und bespielt abermals 60 Häuser mit seinem neuesten Programm. Ein Live-Dokument dieser Tournee wird 1995 unter dem Titel ´Zwischen Zürich und zu Haus´ herausgebracht.

Seither werden alle Tourneen mit einem Live-Album bedacht, weil jede Show die pure musikalische Essenz von Reinhard Mey wiedergibt. Nur seine Stimme und seine Gitarre verhelfen jedem Lied ohne die entsprechend opulenten Studioarrangements zu einer gewissen Zeitlosigkeit. Selbst die Tournee zum Studioalbum ´Farben´ aus dem Jahre 1990 erhält mit dem Live-Album ´Mit Lust und Liebe´ im Jahre 1991 ihr Äquivalent.

Das Live-Zeugnis zur “Alles-geht-Tournee” bleibt allerdings jahrelang aus. Reinhard Mey vergisst die beiden Kassetten von Manfred Leuchter und streicht deren Existenz dreißig Jahre lang aus seinem Gedächtnis.

Erst als er in Erinnerungen schwelgt und auf seinem Dachboden nach alten Alf-Kassetten sucht, die er mit seinen längst erwachsenen Kindern immer auf langen Autofahrten gehört hat, fördert er zwei Kassetten mit der Aufschrift “Aschaffenburg 1” und “Aschaffenburg 2” zutage. In staubigen Kisten zwischen Pipi Langstrumpf, Iron Maiden und Benjamin Blümchen findet er überraschend die zwei bespielten und gewissenhaft verpackten 100er Musikkassetten. Es sind die verschollen geglaubten Mitschnitte der “Alles-geht-Tournee”.

Nun kann nach 32 Jahren auch diese Lücke in der Tournee-Dokumentation geschlossen werden. Zu guter Letzt erhält Reinhard Meys glühende Anhängerschaft doch noch die Möglichkeit, die Kompositionen des außergewöhnlich schönen Studioalbums ´Alles geht!´ in ihren reduzierten Live-Versionen zu genießen. Obendrein beinhaltet der aufgenommene Abend am 20. Oktober 1992 in Aschaffenburg glücklicherweise sogar einen hervorragenden und euphorisch beklatschten Auftritt ohne Hänger und ohne falschen Ton. Künstler als auch Publikum zeigen sich in Hochform.

Reinhard Mey eröffnet den Abend unter brandendem Applaus unerwartet und erstmals mit seinem alten Schlachtross, seinem bekanntesten Evergreen ´Über den Wolken´, gefolgt vom gefeierten ´Bei Hempels unterm Bett´ und einem passenden ´Sauwetterlied´ mit Fingerschnipsen aus dem aktuellen Werk.

Aus diesem trägt Reinhard Mey sogleich noch ´Dunkler Rum´ vor, unter Bezugnahme auf die Ballade “Ribbeck auf Ribbeck” von Theodor Fontane, sowie für seinen mittleren Sohn und alle Kinder ´Du bist ein Riese, Max!´, als Nächstes das beschwingte, aber lyrisch bittere Lied ´Grenze´, das nachdenkliche ´50! Was, jetzt schon?´ und das aufgeregte, zu Begeisterungsstürmen hinreißende ´Das Etikett´.

Weiterhin gibt er aus ´Alles geht!´ den ungewöhnlichen Song zur Wiedervereinigung ´3. Oktober ’91´ sowie im Folgenden ´Ich liebe dich´, ´Peter´, ´Ich liebe das Ende der Saison´ und ´Die Würde des Schweins ist unantastbar´ über nicht artgerechte Tierhaltung zum Besten.

Jubel brandet im Publikum bereits bei den meist ausschweifenden Vorreden, etwa zum ´Zeugnistag´ auf. Denn Reinhard Mey vergisst überdies den Erwartungen entsprechend einige seiner Klassiker wie das bezaubernde ´Dieter Malinek, Ulla und ich´, ´Von Kammerjägern, Klarsichthüllen, von dir und von mir´ und das epische ´Der Bär, der ein Bär bleiben wollte´ sowie die französische Liedversion ´Il Neige Au Fond De Mon Ame´ aus seinen Chansontagen und das amüsante ´M(e)y English Song´ auf Denglisch nicht.

Selbstverständlich erst recht vom Jubel umflutet ist einer seiner wichtigsten Songs mit einem immer noch aktuellen Text und dem Aufruf zu Ungehorsam und Widerstand: ´Nein, meine Söhne geb’ ich nicht´.

Daneben spielt er den live immer wieder gerne gespielten ´Rundfunkwerbung-Blues´ und vom fast aktuellen Vorgängerwerk steht wenigstens noch ´Ich hab’ meine Rostlaube tiefergelegt´ als erste Zugabe auf dem Programm, gefolgt vom kaum älteren ´Und der Wind geht allezeit über das Land´ und dem legendären, Herz erreichenden, klassischen Abschied: ´Gute Nacht, Freunde´.

“Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu geh’n. Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Steh’n.”

´In Aschaffenburg – Die wiedergefundene Tournee 1992´ ist für ein junges, mittelaltes oder reifes Publikum ein reiner, zweieinhalbstündiger, glänzende Augen erzeugender Hochgenuss.

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