Der Altsaxophonist Immanuel Wilkins bricht mit den Regeln der Vergangenheit, um der eigenen musikalischen Zukunft ein Dasein zu ermöglichen.
Bei seinem dritten Album für “Blue Note Records” sind nämlich nicht nur die Musiker seines Quartetts zugegen, Micah Thomas am Klavier, Rick Rosato am Bass sowie Kweku Sumbry am Schlagzeug, sondern die Sängerinnen June McDoom, Ganavya und Cécile McLorin Salvant sowie Sänger Yaw Agyeman.
Im Mittelpunkt des konzeptionellen Werkes steht daher des Öfteren nicht Altsaxophonist Immanuel Wilkins, sondern vielfach Pianist Micah Thomas und die zahlreichen Sängerinnen, allen voran June McDoom.
´Blues Blood´ nährt sich von Bildern, Büchern und Flashbacks der Vergangenheit, aus Geist und Körper. Es lehnt sich an Erinnerungen aus Immanuel Wilkins’ Kindheit in der Gegend von Philadelphia an. Während er sich musikalisch auch dem Blues zuwendet, sind es thematisch natürlich solch immer noch brandaktuelle Angelegenheiten wie Gewalt und Unterdrückung, Klassenkampf und Rassismus.
´Blues Blood´ gleitet durch Raum und Zeit, der seelischen sowie geistigen Erfahrung entnommen, und beschreibt das Leben der Afro-Amerikaner in allen Facetten. Es erschafft eine Sehnsucht nach Hoffnung aus der Improvisation und der Innovation. Die einzelnen Kompositionen fließen dabei wie in einem erzählerischen Strom und werden sogar zwischendurch um Stimmen und Geräusche bereichert.
June McDoom erhebt in ´Matte Glaze´ ihren Gesang zum Klavier. Schlagzeug und Bass treten hinzu, ehe das Altsaxophon und der dreistimmige Gesang ihre Stimmen aufsteigen lassen, letzterer beinahe in Zeuhl’scher Dimension. Selbst in ´Motion´ ertönt die Stimme von June McDoom zum Klavier und begleitet ebenso noch das später hinzukommende Altsaxophon – Vocal Jazz und Avant Pop vereint.
Anschließend begleiten eine Kinderstimme, Esi Sumbry, und gesprochenes Wort ´Everything´, schließlich singt Ganavya auf Tamil, derweil sich das Altsaxophon reserviert verhält. Im kurzen Interlude ´Air´ zeigen sich sogar direkt hernach Stammesrituale.
Cécile Mclorin Salvant hat ihren Solo-Auftritt am Mikrofon in ´Dark Eyes Smile´ zu Klavier und Altsaxophon, denn im halluzigenen ´Apparition´ singen gleichsam die anderen Sängerinnen zu Naturgeräuschen und Stimmbräuchen.
Nach der kurzen, interluden Geräuschkulisse ´Assembly´ entpuppt sich ´Afterlife Residence Time´ über acht Minuten als Avantgarde, Fusion und Pop Jazz. Abermals mit allen Sängerinnen und einem wortlos johlenden Yaw Agyeman zur Gitarre von Marvin Sewell tritt Immanuel Wilkins beinahe ekstatisch auf. Yaw Agyeman kommt schließlich zu seinem Solo-Auftritt am Mikrofon im souligen und experimentellen ´If That Blood Runs East´ zu Klavier und Altsaxophon.
Das große Finale bestreitet der flehende und schreiende, zehnminütige Titelsong ´Blues Blood´ mit fast allen Sängern im Holy Blues und Avantgarde Jazz. Wortloser Gesang, ein alle Dämme brechendes Klavier und Altsaxophon taumeln alldieweil wieder in einen Rauschzustand. Doch nicht erst im Titelsong lässt Immanuel Wilkins das Blut fließen, das Blues-Blut.
Inspiration fand er in einem Satz von Daniel Hamm, einem der “Harlem Six” oder “Blood Brothers” genannt, die 1964 fälschlicherweise des versuchten Mordes angeklagt, inhaftiert und verurteilt wurden. Dabei wurden die sechs jungen schwarzen Männer aus Harlem brutal geprügelt: „Ich musste den blauen Fleck öffnen und etwas von dem Blut des Blues (Blutergusses) herauskommen lassen, um es ihnen zu zeigen.“ Dieses Blues-Blut entsteht, wenn die Blutgefäße nicht an der Hautoberfläche, sondern unter dieser aufspringen.
Jetzt lässt Immanuel Wilkins das Blues-Blut aufwallen, lässt die Erinnerungen wieder hochkochen.
(9 Punkte)