PHIL COLLINS – Face Value
~ 1981/2023 (Analogue Productions/Atlantic 75 Series) – Stil: Pop ~
Wenn zum 75-jährigen Jubiläum von „Atlantic Records“ das Debütalbum von Phil Collins auf Vinyl frisch aufgelegt wird und in der bekannten Zusammenarbeit von „Acoustic Sounds“, „Analogue Productions“ und „Quality Record Pressings“ auf einem 180g schweren 45 rpm-Doppel-Vinyl, gemastert von Chris Bellman bei Bernie Grundman, in einem wunderbar dicken Tip-on Gatefold Double-Pocket-Jacket erscheint, muss der Klangfetischist einfach zugreifen.
Denn nur auf diese Weise gelangt der Schlagzeuger und Sänger von GENESIS in das eigene Wohnzimmer, da der Sound alle anderen bisherigen Pressungen in ihrem Klang in den Schatten stellt. Die frische Pressung von „Analogue Productions“ klingt derart druckvoll und gehaltvoll, sie ist umwerfend lebhaft und völlig unverblasst, so dass eine immense, niemals zuvor gegebene Detailreiche hörbar wird.
Somit weiß der angefixte Fetischist, was soundtechnisch zu erwarten ist. Der selige Phil Collins-Verehrer mit einigen Plakaten an der Wand seiner verrauchten Kellerbar weiß ohnehin, was ihn musikalisch erwartet.
Dieses erste Solo-Studioalbum nahm Phil Collins von Mitte 1980 bis Anfang 1981 auf, da sich bei ihm eine ganze Reihe an Liedern angesammelt hatten, die sein privates Gefühlschaos nach der Scheidung mit seiner ersten Frau im Jahre 1979 aufarbeiteten.
Phil Collins hatte 1975 zähneknirschend die Rolle als Frontmann von GENESIS akzeptiert, nachdem er zuvor nur die des Schlagzeugers ausgefüllt hatte. Als er mit der Gruppe zur neunmonatigen Welttournee zum 1978er GENESIS-Werk ´…And Then There Were Three…´ aufbrechen wollte, stellte ihn jedoch seine Ehefrau vor die Wahl. Phil Collins entschied sich für die erfolgsversprechende Welttournee und seine Frau zog mit den Kindern aus. Den so entstandenen Scherbenhaufen verarbeitete er mit ´Face Value´, musikalisch auch in klarer Abgrenzung zu seinen anderen beiden langjährigen Bandkollegen, Tony Banks und Mike Rutherford.
´Face Value´ wurde am 13. Februar 1981 veröffentlicht und markierte den Beginn einer äußerst erfolgreichen Solokarriere. Allein aufgrund der Erfolgssingle ´In The Air Tonight´ wanderte das Album über 5 Millionen Mal in den USA und über 1,5 Millionen Mal in Großbritannien über den Tresen des Händlers.
Durch das Songwriting seines Solo-Debütalbums gelang es Phil Collins, die Unordnung seiner Gefühlswelt wieder ins Reine zu bringen. Der Kompositions- und Aufarbeitungsprozess gebar einen stimmungsvollen Soundtrack voller Rock- und Pop-Songs. Art und Prog Rock oder Fusion Jazz war nicht zu erwarten, denn Phil Collins liebte insgeheim die schlichten Melodien von WEATHER REPORT und der Black Music, so dass er sich auch im Soul und R&B ausleben wollte.
Er engagierte das Blechbläserensemble PHENIX HORNS, das für EARTH WIND AND FIRE gearbeitet hatte, und den indischen Violinisten L. Shankar. Erstaunlicherweise ließ er sich sogar von seinem ehemaligen Bandkollegen Peter Gabriel inspirieren und nutzte neben seinem eigenen Spiel mit den Stöcken ebenso Schlagzeugprogrammierungen.
Wahrscheinlich hat der überirdische Erfolg der Single ´In The Air Tonight´ dazu beigetragen, dass dieses unsterbliche Album nicht in seiner Geschlossenheit betrachtet wird. Während ´In The Air Tonight´ mit dem kürzesten Trommelsolo noch die Lebenshölle in Lauerstellung beweint, ist bereits ´This Must Be Love´ samt einem Bassloop von Alphonso Johnsons (WEATHER REPORT, SANTANA, CHET BAKER) die Liebeserklärung an seine spätere Frau Jill Tavelmann.
Bei ´The Roof Is Leaking´ beschränkt sich Phil Collins mit Eric Claptons Gitarrenspiel auf einige Country-Rock-Einsprengsel, während er mit ´I Missed Again´ und Ronnie Scott am Tenorsaxofon R&B in den Radio-Stationen salonfähig macht. Zwischendurch treten zur Abwechslung zwei hintereinander folgende Instrumentalstücke in Erscheinung, das Brian Eno-esque ´Droned´ im indischen Raga-Sound und das leicht Jazz-lastige ´Hand In Hand´ mit einem Kinderchor aus Los Angeles.
Die schmerzvoll erdrückende Ballade des Werkes ist kurz und heißt ´You Know What I Mean´, allein mit Gesang zu Klavier und Streichern. Die R&B-Einflüsse schauen mit einem gehörigen Schuss Funk in ´I’m Not Moving´ nochmals heraus, die Bläsersektion im schwungvollen ´Thunder And Lightning´, ehe das gehaltvolle und sinnige ´If Leaving Me Is Easy´ mit nochmaliger Gitarrenarbeit von Eric Clapton erst spät aufdreht.
Daneben präsentiert Phil Collins eine schnelle und funkige R&B-Version des GENESIS-Liedes ´Behind The Lines´ und eine mit rückwärts gespielten Instrumenten vorgetragene Version von ´Tomorrow Never Knows´ der BEATLES. Im letzten Augenblick der Rille singt Phil Collins noch wenige Sekunden des ungelisteten Titels ´Over The Rainbow´ und nimmt damit Bezug auf den Mord an John Lennon. Eine Seele ging ihren unvermeidlichen Weg über die Brücke, die andere wurde nochmals von ihrer Pein geheilt.
Obwohl ´Face Value´ künstlerisch nicht so wertvoll wie das Solo-Debütalbum von Peter Gabriel ist, hat wohl niemand zuvor ohne einen guten Anwalt so viel Geld mit der Aufarbeitung seiner Scheidung verdient. ´Face Value´ ist zumindest ein äußerst zeitloses Werk, das dank „Analogue Productions“ noch nie so brillant aus den Lautsprechern schwang wie aktuell.
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