I SPY – While The War Began
~ 2023 (Top Hole Records) – Stil: Prog Rock ~
Holland, ja ich weiß, es heißt eigentlich Koninkrijk der Nederlanden und Holland ist nur ein Teil von vielen, aber ich bleibe einfach mal bei der informellen Bezeichnung, Holland also ist schon immer ein gutes Pflaster für proggig rockende Klänge. Das fing schon um 1970 an, als SUPERSISTER ´Pudding von Gestern´ verspeisten. Andere waren mit dem KAYAK zwischen EARTH AND FIRE unterwegs. Späterhin sollte man zumindest AYREON kennen.
Und nun stolpern wir über I SPY. Diese Band aus Groningen hat 1988 und 1990 die Fans im Nachbarland verwöhnt. Das musste ich mir erst einmal anlesen, denn auch, wenn ich sogar in Groningens Gassen einige Plattenläden plündern durfte, I SPY bin ich noch nie begegnet. Nach dem Zweitling ´Kite´ war dann wohl lang Pause. Bis jetzt.
Zumindest den letzten Teil dieser Pause hat man sehr kreativ verbracht. Irgendwie hat das Quintett alles aufgesaugt, was es zu Ohren bekam. Aufgesaugt, um mit wirklich großem Besteck alles in einen neuen Zusammenhang zu bringen. Herausgekommen ist ein Album, das vor allem auf Vinyl wohl wirklich zu wirken vermag. Denn in dieser Variante wirkt die Unterteilung in vier Themenkomplexe besonders. Diese nennen sich ´Unforgotten´, ´Fearless´, ´War´ und ´Odyssey´.
Der Einstieg gelingt mit atmosphärischen Klängen, ehe ´In Sight Of The Sun´ auf IQ’schen Pfaden dahinschwebt. Das liegt nicht nur an der Stimmung, sondern vor allem auch an dem etwas kratzenden Gesang von Aernout Steegstra. Danach aber flirtet ´Edge Of The World´ mit eher JETHRO TULL’scher Motivik, allerdings ohne Einsatz einer Flöte, dafür erscheint hier erstmals eine Trompete. Das ist aber nicht das Ende des Instrumentariums. Selbst die berühmte Schnitger-Orgel der Groninger Martini Kirche kommt zum Einsatz. Der Name Schnitger steht für die größte und wichtigste Orgelbauwerkstatt des 18. Jahrhunderts im gesamten Norden Deutschlands, ähnlich wie Silbermann in Sachsen und Thüringen. Wenn man dann so richtig auf Schönklang eingestellt ist, dann hauen uns I SPY das instrumentale ´Scars´ um die Ohren. Mit harschen Gitarrenklängen zeigen sie, sie sind nicht in der Vergangenheit stehen geblieben, sondern können auch zeitgenössischen Djent und VOIVOD-Einflüsse in ihren Sound integrieren.
Je tiefer man eintaucht in diese Welt, dieses ´The Blue Lab´, umso mehr Facetten lassen sich entdecken. Man findet Bläser, die dem Jazz huldigen, man findet soulige Momente. Spielen sich kleine opernhaften Dramen ab und große Epen. Schlussendlich mag man kaum einen Song hervorheben, weil jedes der zwanzig Stücke steht für sich allein und ist doch nur ein Teil eines größeren Puzzles. Ein Teil des Puzzles sollte noch genannt werden. Das ist die Gitarre, die gern und immer wieder durch FLOYDige Landschaften gleitet.
“Shine a light in the darkness“, das kann diese Musik. Sie kann Trost spenden und Hoffnung. Sie kann das Dunkel erhellen und den Abend nach einem harten Arbeitstag versüßen. Sie macht furchtlos, sie macht glücklich. “This is all I longed for.” Das hier ist für mich das spannendste und vielseitigste Prog Album seit langem.
Nachdem NAVARONE nach 15 Jahren ihr Ende angekündigt haben, hat sich eine neue Band bereitgestellt, meine liebste Holländer-Band zu werden. I SPY ist es hoffentlich möglich, dieses Werk mindestens ansatzweise auf die Bühne zu bringen.
(9,5 Punkte)
(VÖ: 21.09.2023)