WAYNE SHORTER – The All Seeing Eye
~ 1966/2021 (Blue Note/Universal Music) – Stil: Avantgarde/Free Jazz ~
Der erst kürzlich, am 2. März 2023 mit 89 Jahren verstorbene, legendäre Sopransaxophonist Wayne Shorter wurde Zeit seines Lebens für seine große Improvisationskunst gerühmt. In die Annalen der Geschichtsschreibung ging er letztlich als Mitbegründer der 1970 ins Leben gerufenen Jazz Fusion-Gruppe WEATHER REPORT ein. Bereits zuvor wurde er aber als Hauptkomponist von ART BLAKEY AND THE JAZZ MESSENGERS und in den Sechzigerjahren, von 1964 bis 1968 als Mitglied des zweiten großen MILES DAVIS QUINTET, zusammen mit Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams, gefeiert und geehrt.
Besonders in den Sechzigerjahren spielte Wayne Shorter auch eine beachtliche Anzahl von Soloalben ein. Am 15. Oktober 1965 schloss er sich für sein neuntes Werk in den “Van Gelder Studios”, Englewood Cliffs, mit Trompeter Freddie Hubbard, Posaunist Grachan Moncur III, Altsaxophonist James Spaulding, Pianist Herbie Hancock, Bassist Ron Carter und Schlagzeuger Joe Chambers zusammen. Sie produzierten mit Alfred Lion das große Avantgarde- und Free Jazz-Meisterwerk ´The All Seeing Eye´.
Auf ´The All Seeing Eye´ setzte Wayne Shorter nicht nur seine Suche nach neuen “Farben und Texturen”, sondern auch seine Forschung “über das Leben und das Universum und Gott” fort. Bereits die Bandaufstellung als Oktett mit vier Blasinstrumenten war eine Herausforderung, die einzelnen Songs und das Album in seiner Gänze ein echtes Kunstwerk.
Im zehnminütigen ´The All Seeing Eye´ zu Beginn der Seite 1 blickt Gott auf die Leere im Universum, die er unbedingt füllen möchte. Die Musik folgt – wie das allmächtige Auge Gottes – der Suche nach dem richtigen Winkel im Universum und dem maßgeblichen Moment. Die Bläser führen in diesen entscheidenden Augenblick der Erschaffung geradezu feierlich ein. Das Schlagzeug, das im Sinne von Wayne Shorter oftmals seitlich versetzt aufspielt, wird instinktiv immer leidenschaftlicher. Das Klavier, das mit dem Bass auf der anderen Seite immer nahe am Geschehen ist, kommt diesem gemächlich hinterher. Die Instrumente winden sich in der Ekstase, als sich Gott für diese eine Schöpfung entscheidet. Zwischendurch nimmt das Klavier etwas Druck aus der Ansammlung von blasenden Instrumenten, ehe nochmals alle zusammen aktiv und die Kessel des Schlagzeugs gerührt werden.
In dem beinahe zwölfminütigen ´Genesis´ entwickelt sich die Schöpfung, erst die Entstehung in einem Rausch, dann übergehend in einen niemals enden mögenden, alle sich dabei heranbildende Schönheit betrachtend, unendlichen 4/4-Takt. Klavier und Percussions beginnen, erst langsam entfaltet sich das Schöpfungswerk, bevor die Bläser die großen Taten verkünden. Der Bass zeigt sich insbesondere während der ruhigen Momente, doch die Bläser stürzen sich in das wimmelnde Treiben. Alles gelangt zur Besinnung, die Bläser rufen immerfort die vollendete Schöpfung aus, solange bis das Klavier die letzten Akkorde anschlägt.
Das siebenminütige ´Chaos´ zur Eröffnung der Seite 2 beleuchtet des Menschen große Fehler, die angerichteten Kriege, das Chaos und die zwischenmenschlichen Konflikte. Zu den Blasinstrumenten stellt sich besonders das Schlagzeug trommelnd in den Mittelpunkt. Das Blech vollführt das Spektakel, zeigt gar die Erfindung des Schießpulvers an, während das Klavier auf seinen Tasten ebenfalls stetig hektischer auftritt. In ´Face Of The Deep´ denkt Gott über seine eigene Schöpfung samt ihrer fehlerbehafteten Menschen nach. Obwohl in Moll gehalten, tragen erst Klavier, dann langsam drückende Bläser bis zum letzten Atemzug des Prustens eine gewisse Hoffnung in sich.
Das Ende ist allerdings dem Teufel vorbehalten, der in der hiesigen Welt überall zu spüren ist. Mit den Bläsern im Takt, bedrohlich zum Trommellauf, wird in ´Mephistopheles´ eine intensive Atmosphäre entzündet. Das Klavier rollt an und die Trommeln erschallen im gleichen Maße, erfüllen diese Schläge schließlich die erhoffte Rohheit des Komponisten Alan Shorter.
Wayne Shorter war froh, den Gang der Handlung mit einer Komposition seines Bruders Alan abschließen zu können, der auf diesem Song das Flügelhorn spielt. Er wählte ferner Freddie Hubbard als Mitspieler aus, weil dieser schnell aufsteigende Bilder umsetzen und für die spitzen Töne sorgen konnte, James Spaulding aufgrund seiner spontanen Spielweise und Grachan Moncur III wegen seiner beruhigenden Wirkung. Ohne Pianist Herbie Hancock und Schlagzeuger Joe Chambers sowie selbstverständlich Wayne Shorter in persona wäre das Werk jedoch nicht zu dem geworden, was es ist, ein in der Endlichkeit unbegreifliches Jahrhundertwerk.
(Klassiker)
´The All Seeing Eye´ erschien 2021 in der “Tone Poet Vinyl”-Reihe, in einer kaum zu übertreffenden Neuauflage und Pressung, d.h. audiophiles, rein analoges Mastering von den Original-Analogbändern, eine 180g-Vinyl-Pressung und ein mega-dickes, glänzendes Gatefold-Cover.
Wayne Shorter – Tenor Saxophon
Freddie Hubbard – Trompete, Flügelhorn
Grachan Moncur III – Trombone
James Spaulding – Alto Saxophon
Herbie Hancock – Piano
Ron Carter – Bass
Joe Chambers – Drums
Alan Shorter – Flügelhorn (nur ´Mephistopheles´)