OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven 1976-1982 – Teil 2
~ 2022 (Bear Family) – Stil: DDR-Rock ~
Die zweite Hälfte der Siebzigerjahre erlebte in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik einen Höhenflug des Progressive Rock, während die Republikflucht zunahm.
Mit einem Heißluftballon hoben im September 1979 zwei Familien Richtung Westdeutschland ab, ein anderer versuchte bereits im August 1978 mit einer Spielzeugpistole ein Flugzeug zu entführen. Auch Musiker flohen aus dem sozialistischen Scheinparadies, Wolf Biermann, Manfred Krug und Nina Hagen waren wohl die bekanntesten Vertreter.
Derweil erreichten Gruppen wie STERN COMBO-MEIßEN (´Weißes Gold´, 1978, ´Reise zum Mittelpunkt des Menschen´, 1981), ELECTRA (´Die Sixtinische Madonna´, 1980), LIFT (´Meeresfahrt´, 1979) oder CITY (mit ´Am Fenster´, 1978) den Zenit ihrer Laufbahn und den des Progressive Rock.
Einen Wimpernschlag später, in den Achtzigerjahren schwappte durch TANGERINE DREAM auch die elektronische Musik in den Osten hinüber und die Neue Deutsche Welle brachte gleichsam ostdeutsche Vertreter auf die fatale Idee, ihren Sound dem Zeitgeist anzupassen. Doch dies ist eine gänzlich andere Geschichte.
Die noch junge Reihe ´OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven´ setzt nach ihrem ersten Teil und der Berücksichtigung der Jahre 1970 bis 1975 die Reihe mit den Jahren 1976 bis 1982 fort, abermals ganz gleich, ob die Begriffe „Kraut“ oder „Progressive“ der Musik jener Jahre im Sprachgebrauch auf den Osten der Republik zutrafen. Zudem bleibt der Kompilation das Ansinnen fern, eine Best-of darzustellen oder einen Hitcontainer zu entfachen. Besondere Schönheiten und auch Raritäten stehen im Mittelpunkt von ´Progressives aus den DDR-Archiven 1976-1982 – Teil 2´, denn dieser zweite und letzte Teil präsentiert den DDR-Rock überwiegend abseits des Mainstreams.
Die allseits bekannten CITY werden jedoch mit einer spannenden Single-Veröffentlichung aus 1976 berücksichtigt, denn die spätere LP-Version von ´Der Tätowierte´ musste in ihrem Text einen gewissen “Manne Krug” entfernen, da dieser bekanntlich zur Unperson des Staates geworden war. Textlich steigerten sich CITY ohnehin mit der Thematisierung eines Tätowierten, ähnlich der gesellschaftlich non-konformen Haltung in ´King vom Prenzlauer Berg´. Von dem erwähnten 1979er Studioalbum von CITY ist obendrein das edle Stück ´Aus der Ferne´ zu hören, das nicht nur eine Sitar von Gastmusiker Nico Richter de Vroe enthält, sondern “Joro” Gogows Geigenspiel, das er wohl als erster Rockmusiker mit einem Plektrum hypnotisch in Szene setzte.
Natürlich hatte der DDR-Rock in jenen Tagen auch harte Klänge zu bieten. Aus der Gruppe KLOSTERBRÜDER ging die Formation MAGDEBURG hervor, die mit dem niemals veröffentlichten Titel ´Alte Bänder´ im Hardrock-Stil á la DEEP PURPLE punktet. Die Band selbst brachte es nur auf eine LP und eine Single, da sie sich allzeit allen staatlichen Schikanen widersetzte, der Sänger sollte sich etwa vor dem Auftritt in einer Jugendsendung die Haare schneiden lassen, und geschlossen einen Ausreiseantrag stellte. Auf den sich anschließenden Staatsdruck reagierten zwei Bandmitglieder mit Trotz und landeten im Gefängnis. Der Rest nahm seinen Antrag zurück.
Dagegen konnte die Gruppe WIR in ihrer Karriere immerhin drei Langspielplatten vorweisen und steuert ihren beliebten Live-Einstieg ´Der Eisberg´ bei. Ebenfalls druckvoll, im Sinne von STEPPENWOLF oder GOLDEN EARRING, agierten PRINZIP. Ihr bereits bekanntes Lied ´Sieben Meter Seidenband´ nahmen sie 1978 mit ihrem neuen Tastenspieler ganz im Sinne von DEEP PURPLE nochmals auf. Die Hardrocker ZOE BAND aus Leipzig konnten sogar 1981 mit der bombastischen Artrock-Ballade ´Himalaja´ einen der letzten Höhepunkte der heimischen Progressive Rock-Ära vorlegen.
BAYON vertonten gerne Gedichte und verarbeiteten recht einzigartig Blues, Rock und Klassik. Der deutsche Blues ´Haus der Kindheit´ setzt mit der Integration eines Cellos einen weiteren Höhepunkt. Obendrein komponierten BAYON Dokumentar- und Filmmusik oder wie im Falle von ´Die Schlacht´ / ´Der Traktor´ aus der Ouvertüre für eine Inszenierung an den Städtischen Theatern Erfurt.
Die GRUPPE JÜRGEN KERTH war ebenfalls mannigfaltig aufgestellt und integrierte in ihrem nie veröffentlichten Song ´Auf die alten Tage´ aus dem Jahre 1980 samt dem Vokalensemble BERLINER SOLISTEN Swing und Blues, Reggae und New Wave.
Die großen Prog-Legenden kommen bei der zweiten Kompilation allerdings auch nicht zu kurz. Die STERN COMBO-MEIßEN ist zu recht mit drei Titeln vertreten. Das Lied ´Der Alte auf der Müllkippe´ von ihrem 1977er Debüt ist in der Single-Version ´Der Alte´ enthalten. Dagegen strahlt der Song ´Licht in das Dunkel´ in seiner Debüt-Version und der merkwürdige ´In den Kosmos´ erstmals überhaupt, da er bislang einzig auf einem Sampler zu Ehren des ersten DDR-Astronauten-Raumfluges erschien, ganz TANGERINE DREAM nachempfunden, ohne ein Sequenzergerät zu besitzen.
Von ELECTRA ist im Gegensatz dazu mit ´Einmal unsichtbar sein´ ein verkopfter Prog zu hören, von LIFT der 1982er Song ´Große Landschaft´ kurz bevor auch sie ihren epischen Sound stark modifizierten.
Die Gruppe GONG fand sich 1981 aus Musikern von KARUSSELL, SET, VARIATION und LIFT zusammen und durfte allein bei ihren Live-Auftritten begeistern, denn eine Schallplattenveröffentlichung blieb ihr verwehrt. Ihr Song ´Mammon´ entstammt einer 1981er Rundfunkaufnahme. REFORM wurden 1975 vom KLOSTERBRÜDER-Gitarrist Jörg Blankenburg gegründet und um den ehemaligen LIFT-Sänger Stephan Trepte verstärkt. Aus ihrem 1981er Zweitwerk entstammt ´Stadtgesicht´, während ´Rock ’n’ Roll´ autobiografisch und auch sonst gegen den Strich aus den Boxen dröhnt.
Für den aufrüttelnden Rock waren 1976 noch überraschenderweise KARAT mit ihrem Titel ´Das Monster´ zuständig. Für den Spaß sorgte immerzu Bernd Dewét, auch hier mit der HORST KRÜGER BAND, und dem Song ´Der Rock’n’Roll King aus dem Thüringer Wald´, der gleichzeitig den Thüringer Volksmusikanten und das Feindbild aller Rocker, Herbert Roth, in die Bratwurst-Pfanne haute.
KARUSSELL, mit den ehemaligen RENFT-Mitgliedern, haben den Titelsong ´Entweder oder´ ins Gepäck der Kompilation geschmuggelt. TRANSIT, mit ihren oft an Udo Lindenberg angelehnten Klängen, gemahnen hier jedoch mit der ´Sturmflut´ eher an PINK FLOYD und die MODERN SOUL BAND landet mit ihrem 1979er ´Meeting´ schon im Jazz.
Die staatliche Zensur hatte bei Titeln wie ´Drachenfliegen´ von Dina Straat & KLEEBLATT oder ´Träume wie Segel´ von 4 PS wohl nicht aufgepasst. Schließlich war Drachenfliegen wegen der Angst vor Republikflüchtigen, Verzeihung, natürlich wegen der Gefährdung des Luftraumes verboten. Aus den Resten von 4PS, der ehemaligen Begleitband von Veronika Fischer, entstand schließlich die Gruppe PANKOW. Doch dies ist eine völlig andere Geschichte.
´OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven´ dokumentiert ein weiteres Mal ganz wunderbar die Entwicklungsstufen der Rock- und Prog-Musik in einem totalitären Lebensraum. Viele Musiker wählten dereinst die Flucht, andere die Flucht nach vorne. Überlebt hat ihr Geist und ihre Musik.