JOACHIM WITT – Silberblick
~ 1980/2022 (Warner Music Central) – Stil: New Wave ~
´Silberblick´ gehört nicht nur zu den wichtigsten Alben der Neuen Deutschen Welle, in die das Debütalbum von Joachim Witt durch den Erfolg der Single ´Goldener Reiter´ unvorbereitet hineinkatapultiert wurde, sondern auch zu den zeitkritischsten Werken der frühen Achtzigerjahre.
Zwei Monate nach FEHLFARBENs ´Monarchie und Alltag´ erscheint mit ´Silberblick´ ein mit unverhohlener Kritik an Lebensart und Lebensweise nicht sparendes, geradezu aufrüttelndes Meisterstück. Aktuell wird das Album nach über 30 Jahren erstmals wieder als Langspielplatte, auf weißem und schwarzem 180g Vinyl aufgelegt.
Nach drei Scheiben mit einer 1976 gegründeten Hamburger Band verlässt Joachim Witt die Gruppe DUESENBERG, um sich auf Solowegen selbst zu verwirklichen. Bis 1977 ist er auch am Hamburger Thalia-Theater als Schauspieler tätig. Mit Bassist Harald „Harry“ Gutowski von DUESENBERG, Schlagzeuger Jaki Liebezeit (CAN, Michael Rother) und Keyboarder Harald Grosskopf (WALLENSTEIN, Klaus Schulze) nimmt Joachim Witt ´Silberblick´ im Sommer 1980 ohne Plattenfirma im Rücken auf. Erst die fertige Produktion übernimmt das Label “WEA” und veröffentlicht die Scheibe im Dezember 1980. Im Januar 1981 erscheint die Single ´Kosmetik´ und im Mai die Single ´Goldener Reiter´, doch erst nach dem Auftritt am 7. November 1981 im Bremer „Musikladen” steigen die Verkaufszahlen der Single und des Albums urplötzlich in ungekannte Höhen. Die Veröffentlichung des bereits im Herbst fertig aufgenommenen zweiten Albums wird verschoben und die hohen Chartnotierungen von ´Silberblick´ und ´Goldener Reiter´ ausgekostet.
´Silberblick´ enthält acht Kompositionen, die im New Wave zwischen US-amerikanischer als auch britischer Prägung zu verorten und mit extravaganten Synthesizer-Klängen geschmückt sind. Sie entsprechen auch keineswegs der aus der Neuen Deutschen Welle gewohnten Fröhlichkeit. Sind sie nicht gerade sarkastisch, dann sind sie sogar anklagend konzipiert.
´Kosmetik (Ich bin das Glück dieser Erde)´ richtet zu einem coolen Groove den Fokus auf den Mode- und Schönheitswahn, in dem die Menschen mit ihrem Körper alles anstellen lassen, um nur dem Zeitgeist zu entsprechen oder ins schnöde Rampenlicht zu gelangen. Diese Oberflächlichkeit hat allerdings 1980 längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, die Geilheit auf Körperkorrekturen nimmt in der Folge stetig zu.
Der große Dauerbrenner ´Goldener Reiter´, der bis heute auf jeder 80er-, NDW- oder Wave-Party gespielt wird, blickt dagegen sogleich auf das Leben und den Absturz eines neureichen Aufsteigers zurück, als dieser in die geschlossene Anstalt eingeliefert wird.
Für die wehmütige Ballade ´Der Weg in die Ferne (Heaven)´ borgt sich Joachim Witt die Musik von dem 1979er TALKING HEADS-Song ´Heaven´ und kreiert eine artrockige Hymne auf eine fiktive Kneipe mit dem Namen “Heaven”. Die oftmals geradezu prophetischen Lieder sehen auch schon im letzten Song der A-Seite, ´Meine Nerven´, anno 1980 das Ende der Zeit gekommen, geplagt von Komplexen und der Verbitterung über die Welt („Die Welt verhurt am Habenfieber.“).
Die Kapitalismuskritik ´Ich hab’ so Lust auf Industrie´ nimmt ebenfalls kein Blatt vor den Mund (“Der Mensch wird gebrechlich, die Tiere verstummen schon.”) und sieht die Menschen als “Konsum-Psychopathen”. Sogar die Bedrohung durch einen Überwachungsstaat, aktueller denn je, sieht der Song ´Mein Schatten (Na, Na, Na, Du Bandit, Du)´ bereits vor dem Hype um George Orwells “1984”-Verfilmung kommen (“Du denunzierst mich, ich bezahl dich dafür, denn du bist vom Staat, und ich bin das Tier.”)
In einem ähnlichen musikalischen Ton wie der ´Goldene Reiter´ klagt hingegen ´Ja, Ja …´ die Abhängigkeit des Menschen im fortschreitenden Technologiewahn an. Mit dem erneut im Rausch aufspielenden, mit neun Minuten geradezu epischen ´Sonne hat sie gesagt´ endet die B-Seite (“Violett zeigt sich das Himmelszelt, Pharmazie heißt unsere neue Welt.”) und dieses Prachtstück von einer Musikscheibe.
“Da lachst Du. Da lachst Du.” Nicht mehr.
(Klassiker)