GAMMELSAETER & MARHAUG – Higgs Boson
~ 2022 (Ideologic Organ/Southern Lord) – Stil: Avantgarde/Electronica/Noise/Metal/Experimental ~
Der norwegische Künstler Lasse Marhaug hat in den letzten drei Jahrzehnten vorwiegend als Noise-Musiker, Avant-Pop-Produzent und provokativer Grafikdesigner an rund 1.000 Alben gearbeitet, unter anderem in Kollaboration mit Jenny Hval und Kelly Lee Owens, und auch die Experimente seiner einstigen Band JAZZKAMER führten Metal und Noise mit einem minimalistischen Ansatz zu maximaler Intensität.
Seine neueste Kooperation mit der dynamischen Sängerin Runhild Gammelsaeter, ´Higgs Boson´, erscheint nun gleichzeitig auf den Labels der beiden SUNN O))) Masterminds Stephen O‘Malley („Ideologic Organ“/CD) und Greg Anderson („Southern Lord“/Vinyl) und bietet neue Einblicke in den Geist seiner höchst experimentellen Musik, die dabei eine überzeugende Mischung aus Intimität und Macht einfängt.
Gammelsaeter hatte bereits mehrmals mit O’Malley und Anderson kollaboriert, unter anderem bei SUNN O))) und THORR`S HAMMER, und ist Biologin mit Doktortitel in Bereich der Zellphysiologie, und sie projiziert nun im Duo mit Marhaug eine Reihe von überirdischen Beugungen und affektiven Klangfarben, die unverkennbar im Bauch des radikalen Metal geschmiedet sind.
Marhaug ist damit in eine Art kosmisches Tauziehen mit Gammelsaeter verwickelt, seine verzückte Elektronik zieht sie zur Erde, während sie die Teilchenphysik und das Unbekannte mit einer Stimme erforscht, die gleichzeitig berauscht und verunsichert. Zusammen sind es aufrüttelnde Erinnerungen daran, dass Raum und Stille genauso überzeugend sein können wie das, was schließlich hereinstürmt, um sie zu überwältigen – eine kraftvolle Beschwörung von Metal- und Noise-Energien.
´Higgs Boson´ zu hören, ist in etwa so, als würde man ein gotisches Herrenhaus bestaunen und dann erst den kunstvollen Rahmen hinter seinen Mauern sehen: raue Geräusche, Soundsplitter von eckiger Statik, das Grollen strafender Bässe. Aber obwohl die Klänge genauso intensiv sind, wie Marhaugs Vergangenheit uns erwarten lässt, sorgen seine Geduld und seine Wertschätzung für den Raum dafür, dass die Ergebnisse deutlich zarter sind, wie das zerbrechliche Skelett von einem einst gewaltigen Tier.
Marhaug verhilft damit Gammelsaeters Stimme zum Schwingen in außergewöhnlichem Grad, indem sie ihre gemeinsamen Geister wie in einem weiten, elektroakustischen Raum konjugieren, von Diamanda Galas’ temperierter Wut bis hin zu einer Katharsis in Stile von CARCASS oder gar Rachmaninows Chorarrangements. Eine beunruhigende Beschwörung dunkler Energie, wie man sie bis dato noch nicht erlebt hatte.
(7,5 Punkte)
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