OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven 1970-1975 – Teil 1
~ 2022 (Bear Family) – Stil: DDR-Rock ~
Während in den Siebzigerjahren im Westen dieser Republik alles nach Krautrock roch, das lauter war als der normale Beat, den Linksfahrern von der Insel sei Dank, wurde der Osten der Republik mit keiner Stilblüte bedacht. Der demokratisch genannte Osten kannte in seinem totalitären Kommunismus keinen Krautrock und selbst der Rock löste erst Mitte der Siebzigerjahre den Begriff Beat ab. Als Progressive wurden in diesen Landesteilen Ernst Busch und Ludwig van Beethoven gepriesen.
Erst als sich die Genossen zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten weltoffen zeigen wollten, durften bislang ungeliebte, langhaarige Gestalten in Gruppenform von staatlichen Medien entdeckt werden. Doch der Plan- und Mangelwirtschaft fehlte es oftmals bereits am Material für die steigende Nachfrage an Plattenpressungen. Dass die Musikusse allerdings auf ihren Scheiben allesamt glänzten, lag an ihrer musikalischen Ausbildung. Sie mussten in staatlichen Eignungsprüfungen ihre handwerklichen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Allein die staatliche Willkür, die Zensur der Texte oder ganzer Lieder, das Verbot, live mehr als 40% an Songs aus dem bösen kapitalistischen Ausland vorzuführen oder die freudig randalierende Anhängerschaft machten dem Ostrock zu schaffen.
Die neue Reihe ´OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven´ belegt unleugbar, dass Anfang der Siebzigerjahre die Rockszene in der Deutschen Demokratischen Republik blühte. Nach der vierteiligen Reihe ´KRAUT! Die innovativen Jahre des Krautrock´ stößt die “Bear Family” mit dieser eine weitere Samplerreihe an. Die neue Kompilationsreihe überträgt dabei die Idee der bekannten Reihe auf den Osten der Republik und behandelt in seinem ersten Teil die Jahre 1970 bis 1975, ganz gleich, ob die Begriffe “Kraut” oder “Progressive” der Musik jener Jahre im Sprachgebrauch anhängten.
Da das Anliegen von ´OST-KRAUT!´ wohlgemerkt keine Best-of ist und ebenso keinen Hitcontainer jener Jahre beinhaltet, konzentriert sich ´Progressives aus den DDR-Archiven´ vielmehr auf das Ansammeln einiger nie auf Tonträger veröffentlichter Raritäten.
Wohlbekannt ist auf dieser ersten Doppel-CD samt dicken 76-seitigen Booklet natürlich die ELECTRA COMBO mit dem himmlischen Titel ´Tritt ein in den Dom´, dereinst schnell auf Platz 1 der Charts gelandet, aber von der Zensur ebenso schnell wieder aus den Hitparaden eliminiert, und eine der ersten Aufnahmen mit Sänger Stephan Trepte. Mindestens genauso populär ist natürlich der wilde Ritt und dritte Hit ´Steige nicht auf einen Baum´ der PUHDYS, doch von LIFT ist hingegen nur die Single-B-Seite ´Roter Stein´, bei dem ihr souliger Sound endgültig im Artrock aufging, und von der KLAUS RENFT COMBO die Single-B-Seite ´Was mir fehlt´ vertreten.
Das JOCO DEV SEXTETT muss mit seiner psychedelischen Aufnahme ´Stapellauf´, hier die unzensierte Erstfassung aus 1970, auf jeden Fall zu den Urvätern des DDR-Rock gezählt werden. 1973 wurden sie jedoch aufgrund von Zollvergehen, der Beschaffung westlichen Equipments vorübergehend verhaftet und lösten sich 1980 auf. Glorreich kamen sie unter dem Namen FORMEL 1 als erste Heavy Metal-Band des Landes wieder zurück. Die Gruppe SET wollte dagegen mit ihrem Song ´Eisen´ eher STEPPENWOLF nacheifern und 1974 frühen Heavy Metal spielen.
Die erste Rockplatte spielten UVE SCHIKORA UND SEINE GRUPPE 1972 ein. Der Song ´Deine Augen´ hat auch rein instrumental betrachtet den Schlager bereits hinter sich gelassen. Ihre Musik wurde jedoch ab 1976, der Flucht von Uve Schikora in den Westen, ausgesondert. Die bekannte STERN-COMBO MEISSEN ist im FUSION-Projekt mit den KLOSTERBRÜDERN und dem raren Song ´Gedanken an Fusion: Aktivität´ berücksichtigt. Allein drei Songs überlebten in den Aufzeichnungen von Diskussionssendungen, der Rest wurde vernichtet, weil die KLOSTERBRÜDER Ausreiseanträge stellten und dafür im Gefängnis landeten. Die ausartende Randale der Zuschauer nach einem Konzert von BÜRKHOLZ FORMATION 1973 in Dresden lastete man demgegenüber ebenfalls den Musikern an. Ein Jahr nach ´Sei kein Vulkan´ und ein Monat nach den Gefechten mit der Volkspolizei wurde die Band verboten.
´Weiter, Weiter ´ des PETER HOLTEN SEPTETT erschien auf gar keinem Tonträger und ist trotz fehlender Existenz eines Bandleaders gleichen Namens ein echtes Kleinod aus dem Jahre 1972. Das EKKEHARD SANDER SEPTETT, später als DIE SANDER FORMATION auch im Schlagerbereich begleitend tätig, spielt zu ´Kein Märchen´ mit Flöte eigentlich geradezu klassischen Krautrock.
Verspielter Siebzigerjahre Hardrock und echter Progressive Rock lebt im fantastischen Achtminüter ´Gib dir selber eine Chance´ der ansonsten ausladenden Freejazzer PANTA RHEI, Vorläufer der berühmteren KARAT, auf. Auch die Gruppe BAYON aus Wismar hatte Bandphasen im knalligen Freejazz, so im instrumentalen ´Input´ aus 1972 nachzuhören.
Die ansonsten im Rock/Jazz/Blues agierende GRUPPE JÜRGEN KERTH durchzieht in ´Nacht unterwegs´ den Nebel der Psychedelic. Das MODERN SEPTETT BERLIN, Nachfolger der MUSIC STROMERS und Vorläufer der noch heute existierenden MODERN SOUL BAND, spielt hingegen mit dem Song ´Sagen´ einen flotten DDR-Beat, der allein aufgrund des stalinistischen Textautors fragwürdig erscheint.
Die Gruppe WIR, nicht mit den westdeutschen um Drafi Deutscher zu verwechseln, präsentiert ihren ersten Hit ´Zeit´ in einer Ü-Wagen-Aufnahme-Version aus dem bekanntesten Musikklub der Hauptstadt. Diese typische, raumergreifende Siebzigerjahre Melancholie ist gleichsam in NAUTIKS‘ fantastischer 1970er Single ´Wir gehen am Meer´ zu vernehmen.
Mehr als eine Zugabe ist bei ´OST-KRAUT!´ die Berücksichtigung von Liedern aus den sozialistischen Bruderländern, etwa Polen, ČSSR und Ungarn, die aufgrund fehlender Verbote den Musikern aus der DDR oftmals weit voraus waren. Daher spielten sie vermehrt ihre Hits aus der Heimat für den Rundfunk der DDR in deutscher Sprache neu ein. Solch ein Import von Musikern und Gruppen war natürlich gleichermaßen im Westen beliebt.
Als Beat-Band wurden die polnischen ROTE GITARREN bekannt, doch mit ´Wachsein im Dunkel´ spielen sie eine ihrer ersten deutschsprachigen Aufnahmen und dabei zum Gebrauch von echten Rauchwaren auf. BREAKOUT aus Polen erzielten in der DDR schon 1969 Legendenstatus. Im Original stammt der Song ´Ich hab die Sonne (Na Dnie Mych Oczu)´ von ihrer fünften Platte. DIE SKALDEN, eigentlich SKALDOWIE, aus Krakau erhielten dagegen einfach eine schlichte Übersetzung ihres Originals und sangen es als ´Ein ferner Punkt (Jak Znikajacy Punkt)´ ein. Bei einem weiteren Song, dem schummrig wonnigen ´Kennst Du das nicht (Czasem Kochac Chesz)´ aus ihrem vierten polnischen Album, begeistert vor allem das Hammond-Orgelspiel des Komponisten und Bandleaders Zielinski.
Der Keith Emerson des Ostens hörte auf den Namen Marián Varga und schaffte es mit dem COLLEGIUM MUSICUM und der ´Hommage à Johann Sebastian Bach´ auf eine Vinylveröffentlichung in der DDR. Die teilweise dem Freejazz zugetanen BLUE EFFECT aus der ČSSR waren mit zwei Songs auf einem “Amiga”-Sampler vertreten. ´Clara´ könnte mit seinen wilden Rhythmen jedoch ebenso südländischen Gefilden entspringen. Ihr Bassist spielte auch bei PAVOL HAMMEL & PRUDY, denn bei PRUDY einten sich die besten Musiker der ČSSR und waren oftmals Begleitband des produktiven Komponisten Pavol Hammel. ´Schluss mit den Märchen´ stammt aus dem Jahre 1972.
Mitreißend ist ´Wind, komm, bring den Regen her (Add Már Uram Az Esöt)´ von KATI KOVÁCS UND DIE JUVENTUS GRUPPE aus Ungarn im nicht unüblichen Siedepunkt aus Hardrock und Beat. Die Ungarn von HUNGARIA begeistern in ´Die Farben der Natur´ von Grund auf mit ihrem bekannt mehrstimmigen Gesang, der auch hier Verwandtschaften zu den BEATLES erkennen lässt. Mit einer Sitar lassen die ungarischen ILLÈS in ´Hier stand die Sonne hoch´ psychedelische Musik in indischer Tradition erbeben. Bevor die weltbekannten OMEGA mit ihren Songs auf Englisch auch den Westen im Sturm eroberten, sangen die Ungarn 1972 noch ungelenk auf Deutsch ´Zerbrechlicher Schwung´ für den deutschen demokratischen Rundfunk ein.
´OST-KRAUT! – Progressives aus den DDR-Archiven´ dokumentiert ohne Umschweife, dass sich in den Morgenstunden des Rock der Deutschen Demokratischen Republik eine blühende Landschaft Bahn brach. Erschwerte Umstände in einem totalitären System zerstörten allerdings auch einige hoffnungsvolle Musikerkarrieren auf Dauer, doch der Rock hat überlebt.