ANNA AARON – Gummy
~ 2022 (Hummus) – Stil: Electronic Pop / Independent Rock ~
Anna Aaron habe ich irgendwann auf ARTE gesehen (ja, ja, ich schaue so was an) und ich war gleich fasziniert. Von ihrer starken und gleichzeitig fragilen Präsenz und Persönlichkeit, ihrer originellen, unprätentiösen Musik und ihrem außergewöhnlichen Gesang.
Schon die erste EP ´I Dry Your Tears Little Murderer´ der Schweizerin war mit Songs wie ´Mary Ruth´ oder ´Nothing Left´ exzellent und auch in ihrer Stimmung (und dem Covermotiv und -titel) beunruhigend. Die folgenden Alben ´Dog In Spirit´ und vor allem das schon stärker elektronisch ausgerichtete ´Neuro´ waren ebenfalls faszinierend. Auch das Album ´El Tiempo De La Revolución´ von 2012 mit dem ERIC TRUFFAZ QUARTET habe ich mir zugelegt, wo Anna als Gastsängerin zeigte, dass sie auch in einem völlig anderen musikalischen Kontext überzeugen kann. Das letzte Album ´Pallas Dreams´ brauchte etwas Zeit und war für mich etwas weniger zugänglich als die genannten Vorgänger. Mit dem Schweizer Drummer und Ambient-Musiker Bernhard Trontin hat sie mit ´Moonwaves´ letztes Jahr noch ein experimentelles Album eingespielt. Sie ist immer offen für Neues und ihre Videos strotzen auch vor Experimenten und originellen Einfällen.
Anna Aaron ist musikalisches Sperrgut in dem positiven Sinne, dass sie vom Image und ihrer Musik in keine genormten musikalischen Pakete passt. Ihr Ansatz ist sehr elektronisch und rhythmisch. Im Info ist von deutscher elektronischer Musik der 1970er Jahre die Rede, klar, das kann man hören. Auch David Bowie und ´Station To Station´ werden genannt. Da bin ich überfragt, klar kenne ich Bowie, bin aber nie ein großer Anhänger des verdienten Musikers gewesen. Manchmal hat sich Anna live und in der Vergangenheit auch an ihrem starken Klavierspiel orientiert. Das ist jetzt eher in den Hintergrund getreten, bei ´Double Life´ aber zum Beispiel noch hörbar. Annas Musik ist kein reiner Pop, schon gar kein reiner Rock. Ihr Gesang ist sehr originell und oft gedoppelt oder vervielfacht. Die Stimmung ist sehr speziell und faszinierend. Trägt oft etwas Leichtes und trotzdem Abgründiges in sich.
Schon der Opener ´Licked´ beinhaltet alle genannten Trademarks. Den faszinierenden Gesang, die elektronischen Melodien, allerdings klingt das Schlagzeug wirklich nach realem Schlagzeug. Hier ist deutlich der Einfluss vom genannten Bernard Trontin von THE YOUNG GODS zu spüren, der ihre vormals meist elektronische Rhythmik auf sein Schlagzeugspiel übertragen hat. Gegen Ende versinkt der Song im Notentaumel.
´What The Birds Said´ ist dann ein sehr fragiler Song, gleich einem Traum mit vielstimmigem Gesang. Sehr schön. Auch wieder im Vordergrund stark rhythmisiert. Mit einer gewissen Eingängigkeit. ´Golden Boy´ integriert 70er Disco Bass und 80er Wave in die musikalische Welt von Anna und ergibt so einen richtigen Ohrwurm, der sich mit jedem Hören immer stärker im Hirn festsetzt. ´Pink Life´ ist einer dieser typischen Anna Aaron-Songs mit einer speziellen Melodie. Auch gleich gut nachvollziehbar. ´Double Life´ mit viel Chören eingeleitet ist schon deutlich komplexer aufgebaut.
´All God’s Good Girls´ kommt mit starkem elektronischen Unterbau und ist zunächst direkter als die meisten anderen Songs. ´Sleeper´ ist auch klassische Anna Aaron, aber wieder von dem starken Schlagzeugbeat unterlegt. Das über 7-minütige ´Birthday´ ist sicher der ambitionierteste und komplexeste Titel von ´Gummy´. Hier hört man dann das genannte elektronischen Erbe deutscher Synthie-Musik der 70er Jahre und im zweiten Teil des Songs wird das gepaart mit einem Art Tribal-Ambient-Sound. ´What You’ve Been Dreaming´ geht an Annas Anfänge zurück, ist sparsamer instrumentiert. Nur der Titelsong am Schluss nervt etwas durch den verfremdeten “Micky Maus Gesang”.
Die Hörerin / der Hörer muss sich auf den Aaron’schen musikalischen Kosmos einlassen, dann gibt es viel zu entdecken. Auch ´Gummy´ führt ihre Musik konsequent weiter und ist für mich etwas stärker als ´Pallas Dreams´, braucht aber sicher wie alle Alben noch ein paar Durchläufe, um sich mir ganz zu erschließen. Anna Aaron ist auf jeden Fall eine der interessantesten und eigenwilligsten europäischen Künstlerinnen.
(8,75 Punkte)
(VÖ: 7.10.2022)