TANGERINE DREAM – Raum
~ 2022 (Kscope) – Stil: Elektronische Musik ~
Die Band, die sich TANGERINE DREAM nennen darf, ist im Verlauf der neuen Ära offiziell zum zweiten Mal angetreten, der kosmischen Musik ein weiteres Kapital hinzuzufügen. Thorsten Quaeschning (seit 2005), Hoshiko Yamane (seit 2011) und Paul Frick (seit 2020 bei TANGERINE DREAM) durften die Aufzeichnungen (zwischen 1977 und 2013) von Edgar Froese (der anno 2015 eine andere Residenz im Universum bezog) mit dem Wohlwollen seiner Witwe und TANGERINE DREAM-Nachlassverwalterin/Managerin Bianca Froese-Acquaye aufgreifen.
Überraschender Weise verschmelzen einige alte Aufnahmen von Edgar Froese derart in der Produktion, dass der Bandgründer und Visionär als Musiker des Werkes und als Komponist aufgeführt wird (´Portico´, ´What You Should Know About Endings´ und ´Raum´). Dennoch ruht sich die aktuelle Besetzung der Band, die sich TANGERINE DREAM nennen darf, nicht auf den Lorbeeren der 55 Jahre währenden Bandgeschichte aus, sondern präsentiert aus heiterem Himmel mit ´Raum´ eines der besten Werke der vergangenen Jahrzehnte.
Der aktuelle Kern – „musikalischer Leiter“ Thorsten Quaeschning (Synthesizer, Sequencer, Piano), Paul Frick (Synthesizer, Sequencer, Piano) und Hoshiki Yamane (Violin, electric Viola/Violin) – verwendet beim Artwork zwar nicht unbedingt die Ästhetik von ´Alpha Centauri´ (1971) und ´Zeit´ (1972), aber deren kosmische Anschauung. Da Edgar Froese nach der “Phaedra Farewell Tour 2014” wohl noch beschlossen hatte, dass TANGERINE DREAM wieder zu ihren Ursprüngen der Siebziger- und Achtzigerjahre zurückgehen sollten, ohne die gegenwärtige Technologie zu ignorieren, entspricht eine musikalische Ausgestaltung mit Synthesizern, Sequenzern und E-Geigen schlichtweg seinem Willen und der aktuellen Besetzung.
Die kürzeren Stücke, die Sechs- bis Achtminüter nutzen allerdings ebenso die Achtzigerjahre von TANGERINE DREAM, um diese mit einem modernen Rhythmus und IDM-Melodien in die Gegenwart zu führen. Während ´Continuum´ mit einer Melodie aus der klassischen Elektronik-Schule und mit einem Twist á la Edgar Froese aufwartet, sich wagt, mit Konventionen zu brechen, um in die Höhe des Raums zu wandeln, geht ´Portico´ hektischer zu Werke. Dunkler und spritzig zugleich erscheint ein ´You’re Always On Time´ zwischen Raum und Zeit sowie ein ´Along The Canal´ samt Mellotron-Klängen gar düsterer. Als Cineasten und Epiker der Elektronik halten sich die, die sich TANGERINE DREAM nennen dürfen, jedoch von schlichten Club-Sounds fern.
TANGERINE DREAM sind durch ´Raum´ auch in der sechsten Dekade ihres Bestehens äußerst relevant. Das Werk beginnt bei der Vinyl-Variante mit dem beinahe zwanzigminütigen ´In 256 Zeichen´ (auf Seite A) und endet immerzu mit dem fünfzehnminütigen Titelstück ´Raum´ (auf Seite D). In letzterer Komposition schwebt über die komplette Seite nicht nur der Geist von Edgar Froese, er ist auch zugegen. ´Raum´ knüpft mit Moog und Synthesizern direkt an das Jahr 1972 an, aber auch an das 1974er Titelstück ´Phaedra´, und erweist sich als wahre, dreidimensionale Rückkehr in das kosmische Universum. Dagegen betritt ´In 256 Zeichen´ gleichsam über eine komplette Vinyl-Seite wahrlich neue Territorien. Erst scheint sich die Komposition in einer verlorenen Welt aufzuhalten, beinahe dem suchenden Post Rock gleich, ehe sich repetitive Geigenklänge mit den Sequenzern und Synthesizern auftürmen, durch den zwitschernden Synth-Garten Eden wandern und auch die Achtzigerjahre ehren.
Das Universum muss warten. Die, die sich TANGERINE DREAM nennen dürfen, musizieren zur Freude aller Elektronik-Jünger noch immer auf Erden.
(8,5 Punkte)