DEAD SPACE CHAMBER MUSIC – The Black Hours
~ 2021 (Independent) – Stil: Dark Medieval / Neoklassik / Ambient ~
Zeitlos. Was bedeutet das? Die gefühlte Abwesenheit von Zeit? Das Unvermögen, sie wahrzunehmen, oder sogar das Verleugnen der physikalischen Messbarkeit von Vergänglichkeit? Die entspannende Aus-zeit, die man sich nimmt? Oder doch schlicht die Unabhängigkeit von den ständig wechselnden Moden der Zeitgenossen? Vieles hiervon findet sich wieder in der Musik von DEAD SPACE CHAMBER MUSIC oder kurz DSCM, sie agieren, als ob sie jegliches Zeitgefühl verloren hätten, wie absichtlich aus der Zeit gefallen, und spiegeln damit auch die Situation der Pandemiejahre wieder, um die sich ´The Black Hours´ dreht.
Der Titel bezieht sich doppeldeutig auf Zeiten vor Erfindung mechanischer Uhren, als die Menschen in Europa andere Möglichkeiten nutzten, die Zeit zu messen. Sonnen-, Wasser oder Sanduhren waren unzuverlässig, für die meisten waren die Glockenschläge der Kirchen Taktgeber, und für die exakte Abfolge der regelmäßigen Gebete, die Tag und Nacht in bestimmte feste Abschnitte unterteilten, dienten bei den Wohlhabenden und des Lesens mächtigen sogenannte Stundenbücher. Eines der wenigen, die auf geschwärztem Papier geschrieben und aufwendig mit Gold, Silber und zerriebenen Halbedelsteinen illustriert waren, ist eben das prächtige Schwarze Stundenbuch, entstanden um 1460 bis 1475 im flämischen Brügge; das Cover nimmt darauf Bezug. Und dunkle Stunden erleben auch wir gerade wieder, in denen ein Halt und Orientierung in der verschwimmenden, weil ereignislosen Abfolge der Tage nützlich sind.
Um dieses vage Gefühl der verrinnenden, nicht greifbaren Zeit herum haben DEAD SPACE CHAMBER MUSIC ihren Zweitling gesponnen, der so anders ist, dass man Mainstreamgeschmäcker fast schon davor warnen muss. Das Quartett hat sich der Wiederbelebung und Neuinterpretation alter Musik und Texte verschrieben, wobei „alt“ hier bis ins Mittelalter und die Renaissance reicht. Ihre Bearbeitung ist dabei nicht auf den heute gewohnten harmonischen Wohlklang fokussiert, sondern auf teils faszinierende, teils irritierende Art immer wieder andersartig, dissonant, klirrend und scheppernd – Katie Murts Schlagzeug klingt teils so scharf blechern wie bei einer Militärkapelle, und weitere Perkussionsinstrumente erzeugen zusammen mit dem ungewohnten Psalter, der Urform der Zither, eine fremdartige Stimmung, die der Harmonie von Gitarre und Cello entgegensteht. Dazu kommt Ellen Southerns dominante Stimme, die wie ihr Psalterium auch gern mal überschlägt und in schrille Höhen abdriftet. Das tut die ganze Band mit Hingabe in den beiden experimentellen, gespenstischen Ambientstücken ´Ion I´ und ´Ion II´, die die unwirkliche Stimmung eines Lockdowns gut wiedergeben, wobei letzteres durch neblige Samples, mit dem Bogen gestrichene Becken und operettenhafte Glossolalie in bester Diamanda Galas-Tradition besticht – nicht einfach zu goutieren und auch recht langatmig, aber trotzdem in Bezug auf ihr Thema spannend. Gerade hier wird besonders deutlich, dass bei DSCR sämtliche Aufnahmen live mit allen Beteiligten zusammen in einem Raum entstehen.
Die mehr an unsere Hörgewohnheiten angepassten, jedoch naturgemäß sehr unterschiedlichen Originalstücke lassen ´The Black Hours´ zuerst wie einen Sampler wirken, aber mit der Zeit wird deutlich, wie DSCM den Songs ihren widerspenstigen, dunklen Stempel aufdrücken, sie zu ihren eigenen machen, gerade durch ihre ungewöhnliche Besetzung sowie die Offenheit für Improvisation und Experiment. Cellistin Liz Paxton kennt ihre Jo Quail in- und auswendig, DSCM haben schon mit der zeitgenössischen Cello-Diva zusammengearbeitet; Gitarrist Tom Bush spielt gern mit jenseitigen Samples und Hauptfigur Ellen Southern packt wilde, ungezähmte Schwärze in alles, was sie erklingen lässt. Ich kann mir diese Musik sehr gut live in einer Ruine, Gruft oder alten Kirche vorstellen, und wer kann, tanzt dazu auf alt- oder neogotische Art.
DEAD SPACE CHAMBER MUSIC erkunden mit ´ The Black Hours´, wie das Erschaffen und Erleben von Musik und Rhythmus dazu dienen können, verlorenes Zeitgefühl wiederzubeleben. Wer offen ist für alte Musik, Neofolk und rituellen Ambient sollte hier ein Ohr riskieren.
(7,5 Punkte)
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