ELECTROMANCY – Technopagan
~ 2022 (Metal Assault Records) – Robot Black Metal ~
Wenn die Genrebezeichnung “Technical Black Metal“ plötzlich zur harten Realität wird, wirft das erstaunlicherweise existentielle bis hin zu philosophischen Fragen auf, mit denen ich mich zugegebenermaßen trotz des immer weiter fortschreitenden Einsatzes von KI in allen möglichen Lebensbereichen bisher kaum auseinandergesetzt hatte. Das können dann Fragen wie diese sein: macht es einen Unterschied, ob Musik von Menschen oder Maschinen komponiert und gespielt wird? Kann Robotermusik als Kunst bezeichnet werden? Wer ist ihr eigentlicher Schöpfer, Mensch oder Maschine? Was spricht den Hörer mehr an, und was berührt mehr: perfekte Ausführung oder hörbare minimale, „menschliche“ Unsauberkeiten im Spiel? Oder ist auch dies eine reine Geschmacksfrage? Gibt es überhaupt so etwas wie die “Soul Of A New Machine”? Man sieht, ELECTROMANCY fordern mit ihrem Roboterkonzept nicht nur die Hörgewohnheiten heraus, sondern auch unser Verständnis von Kunst, Kreativität und Schaffenskraft.
Aber um was geht es hier eigentlich genau? Satyra, Black Metal-Musiker aus Kalifornien, erkrankt mit Mitte Zwanzig an Lyme-Borelliose (ja genau, diese schwer zu diagnostizierende und noch schwieriger zu behandelnde, chronische Krankheit, die durch Zecken übertragen wird…) und verliert durch die damit einhergehenden Nervenschädigungen in den Extremitäten die Fähigkeit, Instrumente zu spielen. Und auch zu komponieren, manche Songs muss er in ganz schlechten Phasen mit den Füssen über einen selbstgebauten Controller schreiben. Musik-, Techfreak und Hacker, der er nun mal ist, entwickelt er per try-and-error über die Jahre verschiedene MIDI-gesteuerte, möglichst einfache, günstige und stabile DIY-Roboter, die Gitarren und Drums nach seinen Kompositionen spielen, also elektromechanisch Saiten und per Druckluft Felle anschlagen, und nimmt mit ihnen Songs auf, die er auch live spielt. Okay, spielen lässt. Wie sich all das seit 2018 entwickelt hat und was für technische Lösungen dafür gefunden, wieder verworfen und verbessert wurden kann man auf seinen Social Media-Kanälen im Detail mitverfolgen. Er spielt zusätzlich eine Art PVC-Rohr-Didgeridoo und übernimmt die Vocals beziehungsweise lässt sie live durch eine Maske abspielen, und um nicht ganz allein auf der Bühne zu stehen begleiten ihn seine drei leb- und gesichtslosen „Voidlings“ mit einer auf „ihr“ jeweiliges Instrument abgestimmten LED-Lightshow – eine Bühnenshow als Kunsthappening also, die von Satyra zudem mit Feuertanz begleitet wird.
Aber kommen wir endlich zur Musik! ELECTROMANCY ist grundsätzlich Black Metal mit Death-, Nu Metal und Industrialeinflüssen, sehr technisch, sehr kalt, sehr repetitiv, dissonant, maschinell, rhythmusbasiert und oft extrem schnell – was jedoch in diesem Genre absolut nichts Ungewöhnliches ist und Fans entsprechend abholen wird, zumal wenn sie offen sind für Minimalismus und Experimentelles. Was in dieser Szene ebenfalls gegeben ist, während die Truemetaller weiterhin getriggertes Schlagzeug diskutieren, sind komplett gesampelte Drums heute im Black Metal genauso Alltag wie Ein-Mann-Projekte. Und aus deren Masse sticht ELECTROMANCY auf jeden Fall heraus, die Stücke sind trotz der technischen Gegebenheiten erstaunlich divers und abwechslungsreich gestaltet. Sicher muss auch von kompositorischer Seite auf die Möglichkeiten der Roboter Rücksicht genommen werden, andererseits können ihre Stärken voll ausgespielt werden.
“My robots aren’t trying to replace human musicians, they are an extension of my own musical expression.”
Wen die technische Seite hinter ´Technopagan´ interessiert, der kann in den fünf ´Mechanical Chatter´ benannten Interludien einen Eindruck sowie der Virtuosität der Roboter bekommen als auch ihrer technischen Beschränkungen. Naturgemäß (pun intended…) können sie fehlerlos auch höchste Blast-Geschwindigkeiten und polyrhythmische Komplexitätslevel bedienen – der spezifisch menschliche Ausdruck durch variierte Intonation, unterschiedlichen Anschlag und abgestimmte Dynamik fehlt ihnen jedoch; zudem hat Satyra darauf verzichtet, Töne per Griffbrett zu variieren und nutzt lieber unterschiedlich gestimmte Gitarren sowie Effektgeräte hierfür. Durch spannende Komposition, vielerlei rhythmische Variationen und verschiedene Gastsänger kommt trotzdem Abwechslung ins Spiel, ´Soot And Sulfur´ betört mit rituellen weiblichen Vocals, ´Glasshole´ entwickelt einen hypnotischen Drive und ´Warpaint _ Makeup´ erweitert den Klang um das bereits erwähnte PVC-Didgeridoo. ´You Cannot Live Forever´ ist der kälteste, mechanischste Song und fordert meine Hörgewohnheiten sehr heraus, mag jedoch einem EBM-Fan sofort gut reinlaufen, gegen Ende der 43 Minuten Gesamtlaufzeit wird es zumindest für mich dann doch zu monoton beziehungsweise zu anstrengend, dem auf die Höhen fokussierten, harten Gesamtklang zu folgen, aber auch das ist reine Geschmackssache.
Ich muss offen zugeben, ich bin zugleich fasziniert als auch irritiert an diese Band herangegangen, und habe mich zuerst gefragt, wieso sich Satyra nicht einfach Mitmusiker gesucht hat, die seine Kompositionen spielen? Zudem befürchtete ich, die Grundthematik des Albums, nämlich seine persönliche Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den wahrscheinlich bleibenden Behinderungen, würde zu einer Art narzisstisch-wehleidiger Nabelschau führen, auch in Bezug auf Songtitel wie ´Disabled´ oder ´My Body Is Failing Me´, doch nichts davon ist der Fall, im Gegenteil. Satyra hat sich extrem reflektiert und reif mit seiner neuen Situation auseinandergesetzt, und für sich beschlossen, das Beste daraus zu machen: in die Tat zu kommen, sich selbst beschränkende mentale Grenzen aufzubrechen, und seinen Traum zu leben, ein Metalalbum aufzunehmen und seine Musik selbst oder vielmehr durch Verlängerungen seiner Selbst auch aufführen zu können.
“When you can no longer do the things you considered you
What are you now?
When you can do nothing,
What is your value?
Intrinsic and infinite”
Natürlich sind auch Schmerz, Verzweiflung und Angst Teil von ELECTROMANCY, Satyras Optimismus und die Lebenslust, der Drang sich zu verwirklichen herrschen jedoch vor, und haben eine einzigartige, futuristische Musik erschaffen, die in Klänge übersetzt, wie gewinnbringend es ist, an sich selbst, sein Talent und seine Möglichkeiten zu glauben.
(7,5 Punkte)
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(VÖ: 14.01.2022)