THE ANCESTRY PROGRAM – Mysticeti Ambassadors Part 1
~ 2021 (Independent/Just For Kicks Music) – Stil: Prog/Artrock ~
Die Münchner THE ANCESTRY PROGRAM lassen es kurz vor dem Jahreswechsel nochmals ordentlich im Karton rappeln, so dass alle Kugeln und Deko-Elemente hin und her gerüttelt werden. Sofern der Blick rasch von einer Pappschachtel zur anderen wandert, verziehen sich die Stirnfalten immer tiefer in die Haut. Dürfen sich nämlich Musikhörer von TALK TALK auf ein Techtelmechtel mit denen von DREAM THEATER einlassen? Denn dies ist die Frage des Augenblicks, die sich dem Zuhörer des zweiten Werkes von THE ANCESTRY PROGRAM beim Anblick der mannigfaltigen Tiefen stellt. Natürlich könnte auch eine ähnliche Nachfrage unter anderer Mitwirkung gestellt werden, doch diese scheint in diesem Moment eine der extremsten und dringendsten zu sein.
Ohne Pauken und Trompeten, aber sogar mit ein wenig Streichern operieren THE ANCESTRY PROGRAM in ´Lovely Lies´, einer, beim blauen Absacker in der rot-weißen Bar am Eck startenden, atmosphärisch starken, zehnminütigen Prog Rock-Nummer mit mehrstimmigem Gesang und dem Einsatz von Veronika Halsers Violine und Christina Elsners Cello. Aber auch sonst durchquert das mittlerweile zum Quintett angewachsene Ensemble alle geöffneten Kartons des Progressive Rock und wirft sogar des Öfteren einen Blick in Richtung Progressive Metal. Sänger Ben Knabe (PHANTONE, AMON DÜÜL), Gitarrist/Keyboarder Mani Gruber (BOYSVOICE), Keyboarder/Gitarrist Thomas Burlefinger (7 FOR 4), Schlagzeuger/Keyboarder Andy Lind (SCHIZOFRANTIK) sowie Neu-Bassist Frank Thumbach (RPWL live) lassen obendrein ein wenig die Elektronik fliegen, täuschen etwa mehrfach in ´Carry On (The Lyricist)´ an, die Welt der Neuen Härte zu besuchen, doch die dreizehn Minuten entfalten sich vielmehr mit sinnlichem Gesang, selbstverständlich ebenso mehrstimmigem, in den Weiten zwischen EMERSON LAKE & PALMER und SAVATAGE.
Denn bereits das 17-minütige Eröffnungsstück ´Dark To Overcome´ agiert sogleich mit der Unbeschwertheit des Siebzigerjahre Prog Rock und der Leichtigkeit des Prog Metal von HAKEN und gesanglich mit der von SOPHISTREE. Da reichen sich auch gerne SUBSIGNAL und SECOND RELATION zu jeder Jahreszeit gesellig das Händchen. Da huscht im Gesangsvortrag ebenso wie bei ´Lovely Lies´ oder in ihrem Debüt ´Tomorrow´ GENTLE GIANT-Singsang durch das Bild. Sogar Gitarrist Wolfgang Zenk (7 FOR 4, SIEGES EVEN) kommt bei diesem Song und bei ´My Enemy´ zu einem kleinen Stelldichein vorbei. Die zarte Hand des Seventies Prog nimmt hingegen bei ´Gusty Ghost´ den Neo Prog unter ihre Fittiche und gießt mit Elektronik, Akustikgitarre und heraufziehenden Keyboardschwaden abermals eine andere Stimmung aus. Demgegenüber positioniert sich ´Tiny Monsters´ mit wunderbarer Schlagzeugarbeit im Artrock und atmet diesen Hauch der Elegie. Ganz in ihrem Element tollen sich die Instrumente des THE ANCESTRY PROGRAM in der achtminütigen Verkündung von ´My Enemy´ aus, während der ´Diamond Ring´ zum Abschluss die dunkle Gegenwart an den Saiten schwingen lässt und die Zukunft im lieblichsten Klange preist.
Die Münchner sind die Könige der Saison, ob drei Heilige oder fünf Musikanten. ´Mysticeti Ambassadors Part 1´ könnte längst ein Klassiker sein, wäre es nicht dem Jahr 2021, sondern den Neunzigerjahren entsprungen.
(9 Punkte)
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https://theancestryprogram.bandcamp.com/album/mysticeti-ambassadors-part-1