KATRE – Behind The Resilience
~ 2021 (Independent) – Stil: Post Metal / Progressive Rock ~
Warnung: im Folgenden erfährst du viele Details zum zugrundeliegenden Thema eines rein instrumentalen Konzeptalbums. Es macht einen großen Unterschied, ob man diese Platte unwissend und damit unbeeinflusst hört, oder eben weiß, um was es geht, da es sich um ein extrem emotionales Thema handelt. Wer sich den ursprünglichen Eindruck eines tiefgründigen, vielseitigen und vor allem aus sehr vielen Quellen harter, gitarrenbasierter Musik gespeisten Albums bewahren will, sollte hier aufhören zu lesen und direkt auf KATREs bandcamp-Seite gehen… wer jedoch weiterliest, wird sich mit vielen bedrückenden bis schwer belastenden Emotionen auseinandersetzen müssen, wenn er ´Behind The Resilience´ hört – gewinnt jedoch auch einen deutlich intensiveren Höreindruck. It’s your choice!
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Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs, aktuell mehr als 82 Millionen Menschen. Davon sind ca. 48 Millionen Binnenvertriebene, die innerhalb der eigenen Landesgrenzen nach neuen, sicheren Orten suchen. Die Hälfte aller Flüchtenden sind Kinder und Minderjährige. Das Phänomen der Migration an sich ist dagegen älter als die Zivilisation, schon immer war die Menschheit auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Naturkatastrophen oder Klimaveränderungen, wie bereits aus der Völkerwanderungszeit bekannt, oder erschloss sich neue Lebensräume, um der wachsenden Bevölkerung Raum und Nahrung zu verschaffen, auf diese Weise wurden sogar neue Kontinente entdeckt und besiedelt. Umgekehrt fand Arbeitsmigration statt, wenn es an anderen Orten zu wenig Arbeitskräfte gab, die deutschen „Gastarbeiter“ ab den 50er Jahren können hiervon erzählen.
Hauptursachen für Flucht und Vertreibung sind jedoch seit jeher gewaltsame Konflikte, Bürgerkriege, massive Menschenrechtsverletzungen sowie erodierende staatliche Strukturen in den Herkunftsländern. Es ist ein systemisches Problem, mit der Zunahme von Krisenherden und Kriegen nehmen auch Flucht- und Migrationsbewegungen zu, was gesellschaftliche Probleme und Spannungen verstärkt. Auch wirtschaftliche Motive und die Folgen des Klimawandels bringen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Insgesamt leben aktuell etwa eine viertel Milliarde Menschen außerhalb ihres Herkunftslands, und wir haben uns an die Nachrichten und Bilder über die aktuellen Fluchtbewegungen nach Europa oder Nordamerika längst gewöhnt, auch an solche wie des ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi, oder der ungarischen Kamerafrau Petra László, die nach rennenden Flüchtenden und Kindern trat. Die Empathie bleibt dabei leider oft ebenso auf der Strecke wie ihre Würde als Menschen, im Gegenteil werden sie oft Spielball politischer Interessen, und viele bezahlen ihre Flucht mit dem Leben.
Zu fliehen ist eine meist unwiderrufliche und folgenschwere Entscheidung, die nie leichtfertig getroffen wird. Was also geht in Menschen vor, die sich trotzdem auf den gefährlichen Weg in eine völlig offene Zukunft machen?
KATREs zweites Album nach dem ganz dem Wunder der menschlichen Existenz gewidmeten Debüt ´Encounters´ erzählt genau hiervon. Das Quartett, das mittlerweile in Berlin und an weiteren Orten auf der Welt verteilt ist, jedoch gemeinsam in Istanbul aufwuchs, hat sich dieses extrem herausfordernden, komplexen und emotionalen Themas angenommen und ein rein instrumentales Konzeptalbum aus der Perspektive Flüchtender geschrieben. Absolut keine Worte, keine Lyrics, und damit auch keinerlei Anhaltspunkte für den Intellekt – eine reine Gefühlssache also. Der Hörer soll nur durch die Emotionen, die die Musik hervorruft, die Geschichte miterleben. Kann das funktionieren, das Thema so transportieren, dass es verständlich beim Hörer ankommt? Um diese Frage beantworten zu können hilft nur, es auszuprobieren…
Eine Hilfe immerhin geben uns KATRE an die Hand, die Story, die der Musik zugrunde liegt ist auf www.katremusic.com skizzenhaft für jeden Song nachzulesen: es ist die Geschichte einer fünfköpfigen Familie, die ihre Heimat wegen eines Krieges verlässt, es bleibt dabei offen, woher genau sie stammen, doch die verschiedenen Phasen dessen, was sie als Flüchtende in Richtung Nordeuropa erleben werden chronologisch beleuchtet. Der Opener ´So Was The Life´ macht als Flashback in die bessere Vergangenheit den Anfang, unbeschwertes Kinderspiel und -lachen erinnern an das normale tägliche Leben davor – alles andere ist dann das danach, in dem absolut nichts mehr so ist, wie es einmal war. Um es abzukürzen: die Familie wird viel Herausforderndes, Tragisches, Grausames und Unmenschliches erleben, und nicht alle überleben die Flucht. Aber wie dies in Musik umgesetzt wird, ist tief berührend, ergreifend und beeindruckend zugleich.
Denn bei KATRE gibt es zwar musikalisch alles zwischen extremer Heavyness im Riffing, groß angelegten Spannungsbögen, Steigerungen hin zu massiven Soundwällen, progressiven Rhythmusspielereien und harmonisch-liedhaften Passagen mit epischen Soli bis hin zu filigranem Ambient; eine ständige Fluktuation in der Dynamik ist generell ihr Markenzeichen, aber all das kommt trotz der latent wachsenden Anspannung sehr zurückgenommen beim Hörer an – kein Drama, keine Übertreibung, ganz im Gegenteil. Nichts wird künstlich inszeniert, aufgebauscht, emotional beeinflusst, die Vier nehmen sich stets zurück und bleiben immer in der empathischen, aber neutralen Beobachterrolle. Und hier kommt der Titel der Platte ins Spiel: Resilienz ist ein psychologisches Konzept darüber, wie Menschen Traumata und belastende Extremsituationen überwinden und verarbeiten können, ohne bleibenden Schaden an der Seele zu nehmen. Es ist also eine spezielle Art seelischer Widerstandskraft– eine besonders lebensmutige Haltung, die oft gerade in Bevölkerungsgruppen, die unter erschwerten Bedingungen leben müssen, ausgeprägt ist. Dass jegliche Resilienz jedoch eine Grenze hat, nämlich dann, wenn Menschen alles genommen, wird was ihr Leben ausmacht, und Trauer ihr Leben ständig beherrscht, wird damit ausgedrückt, dass sie sich nun in einem Zustand „Behind The Resilience“ befinden. Daraus ergibt sich der düstere, schwermütige, ja bedrückende Grundton der Platte; gleichzeitig können KATRE nicht verleugnen, wie resilient sie selbst sind: sie schaffen es einfach nicht, vollkommen pessimistische, deprimierende Musik zu schreiben, immer wieder blitzen Hoffnungsschimmer auf, gibt es positive Erlebnisse. Aber vielleicht wäre das Thema sonst auch gar nicht zu ertragen…
Man spürt jedenfalls in jeder Sekunde, wie sehr sich das Quartett mit der Geschichte, die es erzählt, auseinandergesetzt und versucht hat, die verschiedenen Geschehnisse emotional zu erfassen und umzusetzen. Dabei kommt ihnen entgegen, dass sie empathische Menschen sind und ganz offenhörbar einen sehr breiten musikalischen Hintergrund besitzen, als Band wie als Individuen. Schlagzeuger Okaner Ertuğrul schätze ich als Tech Death-Fan und generell Extremmetaller ein, der womöglich eine Ausbildung im Jazz hat, Bassist Özgür Şepşül mag aus einer ganz anderen Musikrichtung zum harten Rock gekommen sein, und Şah Cihan İngin an den Synthesizern ist vielleicht genau wie Bandkopf und Gitarrist Hasan Koç an den neuen „Post-Richtungen“ genauso interessiert wie an progressivem Rock seit den 70ern, allen gemeinsam ist sicherlich der traditionelle Folk-Hintergrund ihrer Heimat. Damit ist eine große Palette gegeben, mit deren Klangfarben hier ganz unterschiedlich gemalt wird. Vieles verläuft kreisförmig, oft werden einmal eröffnete kleine Themen immer wieder aufgenommen, abgewandelt, von verschiedenen Seiten betrachtet und beleuchtet, gesteigert und fallengelassen, bis sie in der finalen Auflösung zerfließen.
Das Element Wasser spielt generell eine große Rolle, der Bandname entspricht dem arabischen Wort für „Tropfen“, und kann nach der Flucht übers Meer nur als salzige Träne betrachtet werden. Auch das oft beschriebene „Eintauchen“ in Musik erhält hier eine ganz neue Bedeutung, genauso wie die „innere Reise“, die wir gerade mit instrumentalen Stücken verbinden. Dies ist eine innere Reise aus der Perspektive verzweifelter Protagonisten, die uns daran teilhaben lassen, durch welche Strapazen für Körper und Seele sie gehen mussten, um hierzulande sicheren Boden zu erreichen. Wundert euch nicht, wenn ihr nach ´Behind The Resilience´ auf demselben ins Schwanken geratet, und es hoch her geht in euch selbst. Aber das ist es allemal wert!
(8 Punkte)