WAZZARA – Cycles
~ 2021 (Independent) – Stil: Moongaze / DoomPostMetalShoegaze ~
Wer sein Debütalbum an Samhain (oder neudeutsch Halloween) veröffentlicht, hat sich das zuvor gut überlegt. Es ist die Zeit der Erinnerung an die Ahnen, der Rückverbindung zu unseren Wurzeln, wo die Schleier in andere Welten dünn und durchlässig sind und wir uns auf die besinnen, die uns vorausgegangen sind. Vor uns gewirkt haben. Das Fundament dafür gelegt haben, auf das wir heute selbstbewusst bauen können. Uns ihr seit langem tradiertes Wissen weitergegeben haben, so dass auch wir Weisheit erlangen können, und andere daran teilhaben lassen – unseren Vorfahren gebührt tiefer Dank.
Es ist aber auch die Zeit, alte Bande oder Verpflichtungen, die unnütz oder sogar schädlich geworden sind, abzustreifen, uns von dunklen Schatten zu lösen, die viel zu lange auf uns gelastet haben, und oft gar nichts mit uns selbst zu tun hatten, um uns endlich zu befreien und auf etwas völlig Neues vorzubereiten. Werden und Vergehen, Geburt, Wachstum und Tod, alles Leben verläuft in Zyklen, wir verabschieden eines und begrüssen schon gleich das andere, das zeigt uns die Natur gerade im Spätherbst besonders deutlich. Und damit sind wir schon mittendrin in ´Cycles´, einem Album, das die erneuernde Kraft von ewigen Kreisläufen feiert, und uns dazu einlädt, im immerwährenden Reigen des Lebens mitzutanzen.
Ich wage mal zu behaupten, dass Frauen als zyklische, mit dem Mond verbundene Wesen an dieser Thematik schon immer näher dran waren. Und dass Barbara Brawand (ISÔT ESTRANGE, BETWEEN GIANTS, Ex-CALADMOR/-SOLAS DORCHA) gerade das Wasser (das althochdeutsche „wazzara“ bedeutet „die Wassergeborene“) als Thema ihres Soloprojektes gewählt hat ist wohl wiederum kein Zufall. Ist es doch das Seelenelement, das Urweibliche, Unbewusste, Unergründliche, Veränderliche, immer in Bewegung Befindliche, aus dem alles Leben entspringt. Gefühle, Träume, loslassen, kraftvoll und frei fliessen haben viel mit Fruchtbarkeit und damit auch Kreativität zu tun, und münden hier in kraftvolle, packende Songs, die den Hörer an der Wurzel seiner Existenz berühren. Doch warum ist das so?
Blicken wir dazu kurz in die Vergangenheit. Die Folk-Metaller von CALADMOR und Barbara als ihre Leadsängerin werden Einigen ein Begriff sein, vielleicht auch Barbaras andere oben genannte Bands, die ebenfalls meist einen starken folkloristischen Bezug auf die hiesige, sprich keltisch-nordische Frühgeschichte haben oder die Grenze zwischen Metal und Post Rock erforschen, jedoch stets die düsteren, schattigen Regionen der tiefen, oft zerrissenen, schmerzhaften Emotionen bevorzugen. Das also sind ihre musikalischen Wurzeln und Motive, und gleichzeitig die ganz unterschiedlichen Quellen, aus denen sie schöpft. Und wie sehr ihre Schöpferkraft sprudelt, wenn sie ganz ihr eigenes Ding machen kann, zeigte schon ´zessa´, die EP die 2019 ´Cycles´ voranging. Komplett dem Wasser gewidmet ist sie eine sanfte, doch starke Transformationsplatte, die die lange Zeit mit CALADMOR 2015 beendet und damit den Weg frei gemacht hat für das, was sich nun mit Macht Bahn bricht. Dieses Debüt kommt mit einer Wucht auf uns zu, als ob ein Damm gebrochen ist, der jahrelang die Ideen, kreativen Wünsche und Sehnsüchte einer erfahrenen Musikerin und Songwriterin zurückgehalten hatte. Pure Frauenpower in sieben Songs (und ein famoses Cover…) gepackt, die sofort tief unter die freudige Gänsehaut gehen, weil zum einen diese ungebändigte Energie stets spürbar ist, es zum anderen grossartige, vielschichtige und immer wieder überraschende Stücke mit Ohrwurmcharakter sind, dazu brilliant arrangiert, produziert und abgemischt.
Hier kommt nun endlich auch die Band ins Spiel, die sich in den vergangenen Jahren zu WAZZARA zusammengefunden hat und Barbara nicht nur technisch perfekt ergänzt. An Gitarren und Bass sind es alte Bekannte, Mäsi Stettler und George Necola, die als Musiker beziehungsweise Produzent auch schon bei CALADMOR beteiligt waren; für das stilistisch enorm wichtige Schlagzeug haben sie jedoch eine sehr spannende Lösung gefunden: live wird Julia Kapp die Kessel rühren, für die Aufnahmen von ´Cycles´ konnten sie jedoch DORDEDUH-Drummer Andrei Jumugă gewinnen, der seine Tracks mit zusammen mit dem Multiinstrumentalisten der rumänischen Post-Blackmetaller, Cristian “Jimmy” Popescu, im bandeigenen Studio in Timișoara aufnahm. Seinen unverkennbaren Schlagzeugstil voller Power, Tiefe, Kontrolle und Gefühl hört man sofort heraus, aber auch die anderen Protagonisten zeigen sämtlich herausragende Leistungen – es ist, als ob WAZZARA das Beste aus allen herausholt.
Dies zeigt sich dann in Songs wie ´Solanum´, der doomigen Post-Black Metal-Hymne, die mit einem ALCESTschen Riff wie einem Paukenschlag einsteigt und mit seiner zugleich träumerischen wie selbstbewusst-geblasteten Atmosphäre den Boden bereitet für das folgende Feuerwerk an wogenden Dynamiken und wechselnden Genreeinflüssen. Von der Stimmung her könnte man auch sagen: DARKHER trifft DOOL, um zusammen mit KÆLAN MIKLA und (DOLCH) einen Sampler aufzunehmen. Hier verweben sich aufs prächtigste Post-Rock-Soundteppiche mit Dark Folk (´Antares´, ´Fissures´), Doomrhythmen mit treibendem Black Metal-Tremolopicking und grimmem Gesang (die Dämonenaustreibung ´Ancestral Bonds´) oder introspektive, schwermütige Shoegaze-Motivik mit einem explosiven Gitarrensolo und expressivem, schliesslich gegrowltem Gesang (´Obsidian Skies´), ohne jemals die eigene Handschrift zu verleugnen. Barbara lässt frei von jeglichen Selbstbeschränkungen ihrem Inneren völlig freien Lauf, bringt sich mit ihrem ganzen Sein ein und nutzt ihre Stimme tatsächlich als vielseitiges Instrument, das völlig unterschiedliche Klänge, Lautstärken, Emotionen und Nuancen zwischen Klargesang in diversen Lagen, sich überschlagenden Lauten, ätherischen Chören, fiesem Growlen und bedrohlichem Keifen hervorbringen kann – und damit eben sämtliche Lebenslagen ausdrückt.
Ach ja, und der Mond! Wie könnte ich über WAZZARA sprechen, ohne ihn, nein sie zu erwähnen? Mâne, die silberne, geheimnisvolle Mondin, ewige Wandlerin am Himmel, Herrin der Gezeiten ist ´maenad´ gewidmet, auf mittelhochdeutsch werden intuitive Weisheit und die Zusammenhänge zwischen Mondzyklen, Ebbe, Flut und weiblichem Zyklus kraftvoll besungen, um die wilde, ungezähmte heilige Weiblichkeit wieder an ihren angestammten Platz zu setzen und damit jahrtausendealtes Unrecht und vor allem auch Ungleichgewicht zu beseitigen. Folgerichtig ist gerade ´maenad´ der Song, der die ganze Spannweite von WAZZARAs künstlerischen Möglichkeiten aufzeigt, weswegen er hier weiter unten verlinkt ist.
Schliesslich wird sogar noch das ewige Type O-Fangirl in mir bedient mit einem vollendet sinnlichen Cover eines meiner absoluten Lieblingssongs, der Menstruationshymne ´Wolf Moon´, den ich mir schon immer in weiblicher Interpretation gewünscht habe. Der hochsensible Lord Petrus wird schwarzgrüne Freudentränen weinen, sobald Barbara ihn live performt, da bin ich mir todsicher… weil er sich von ihr verstanden weiss. Und genau so geht es auch mir, ´Cycles´ ist mir innerer Rückzugsort und Seelenheimat geworden. Mein Fazit fällt bei dieser Platte daher sehr persönlich aus: dies ist genau die Musik, auf die ich ewig gewartet hatte – zeitgemässer, schillernd vielseitiger Metal mit Tiefe und Anspruch, ein Genuß für Herz, Seele und Ohren gleichermassen, der zudem die wichtige Botschaft transportiert, dass Sensibilität keine Schwäche ist, ganz im Gegenteil. Was könnte besser in unsere Zeit passen?
´Cycles´ ist, um wieder zum Veröffentlichungsdatum zurückzukommen und damit den Kreis zu schliessen, allen Opfern der Hexenverfolgung gewidmet, und ruft allen Unangepassten und Freigeistern zu: lebt wild und frei! Die Zukunft gehört Euch…
Ach, und hab ich schon erwähnt, dass dies mein Album des Jahres ist? Dafür kann es nur 9 Punkte geben…
Ich bin eben mondsüchtig und habe mich daher für ´mænic´ als Video entschieden. Aber wer die gesamte Band mit einem weiteren Song, ´Obsidian Skies´, in Action sehen will, klickt einfach hier!
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