SUIZID…
…und was das mit jedem von uns zu tun hat
Der Welttag der Suizidprävention, jährlich am 10. September, soll diesmal Anlass sein, ein sehr emotionales und komplexes Thema aufzugreifen, das mit dem Tod von Mike Howe (METAL CHURCH) am 26.07.2021 die Metalszene wieder einmal erschütterte. CYNICs Paul Masvidal hat zudem anlässlich des US-„Suicide Prevention Awareness Month“ aktuell ein sehr berührendes und gleichzeitig aufklärendes Statement zum Suizid seines Freundes und Bandkollegen Sean Malone im Dezember 2020 veröffentlicht, und gleichzeitig eine Spendenaktion gestartet, die zwei Organisationen zu Gute kommen soll, die Suizidgefährdete unterstützen. Dass dies notwendig ist, da es von staatlicher Stelle kaum passiert, zeigt, wie schwierig der gesellschaftliche Umgang mit diesem Tabuthema immer noch ist. Es ist also an der Zeit für etwas Aufklärung, und damit hoffentlich auch Veränderung im Umgang damit.
Regelmäßig berichten die Medien über Suizidopfer. Aber wer ist besonders in Gefahr? Tatsächlich lässt sich dies nicht pauschal beantworten, es betrifft alle Alters- und Berufsgruppen und soziale Schichten, und auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass Suizide bei Künstlern häufiger vorkommen als in der Gesamtbevölkerung (ebenso bei Arbeitslosen, was ja oft Hand in Hand geht…), spielt hier doch oft eine mythische Verklärung hinein, die wiederum die Gefahr von Nachahmungstaten nach sich ziehen kann, aber dazu später mehr.
Zahlen, die zu denken geben
Hier soll es statt um die vielerlei Mythen und Tabus rund um das Thema um Zahlen und Fakten gehen, und vor allem darum, was jeder von uns tun kann, um weitere Suizide zu verhindern. Denn schon der erste Absatz des Wikipediaeintrags zum Aktionstag fasst zusammen, wie wir alle in irgendeiner Weise von dem sehr schwierigen, weil Sinnfragen aufwerfenden und vor allem Angst machenden Thema betroffen sind:
Der Aktionstag soll die Bevölkerung dafür sensibilisieren, dass Suizid ein enormes Problem der modernen Welt darstellt. Damit könnten Warnsignale früher erkannt und Berührungsängste mit diesem Thema reduziert werden. Die Zahl von 800.000 Suiziden pro Jahr wird dabei nur als Spitze eines Eisbergs betrachtet. Denn auf jeden vollendeten Suizid kommen 20 Suizidversuche. Etwa drei von vier Fällen ereignen sich in ärmeren Staaten.
Durchschnittlich sind mindestens sechs Menschen durch einen Suizid persönlich betroffen. Falls ein Suizid in einer Schule oder an einem Arbeitsplatz vorkommt, kann er sich auf mehrere hundert Menschen auswirken.“
In Deutschland nehmen sich jährlich über 9000 Menschen das Leben, das entspricht einer Kleinstadt, oder mehr als allen Opfer von Verkehrsunfällen, Mord und illegalen Drogen zusammen, oder mehr als 25 Personen pro Tag, oder einer Selbsttötung alle 56 Minuten; und dabei ist die noch hinzukommende Dunkelziffer durch nicht erkannte oder aus Scham vertuschte Suizide unbekannt. 76% der Toten sind Männer, also drei Mal so viel wie Frauen, das Suizidrisiko steigt generell mit dem Lebensalter, was auch historisch aus vielen Kulturen bekannt ist – der alte Mensch entschied sich schon ewig selbst für sein bewusst gesetztes Lebensende, um sein Leiden zu beenden und der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Andererseits ist es die zweithäufigste Todesursache bei jungen Erwachsenen im Alter zwischen 10 und 25 Jahren, direkt nach Verkehrsunfällen. Es gibt zudem deutliche regionale Unterschiede.
Die Anzahl der Suizidversuche wird auf mindestens 100.000 im Jahr geschätzt, was bedeutet, dass alle 5 Minuten in Deutschland jemand versucht, sich das Leben zu nehmen; dies wiederum sind besonders häufig Frauen in jüngerem Lebensalter.
Die Folgen gesellschaftlicher Tabus
Suizid ist ein gesellschaftliches, kein individuelles Problem, und somit hat jeder von uns Verantwortung durch seinen Umgang damit. Immer noch ist es eine Tat, die mit offener oder heimlicher Verachtung (wegen vermeintlicher Schwäche) registriert wird, was es für Hinterbliebene noch schwerer macht – wir erinnern uns, durchschnittlich sind 5-6 Bezugspersonen direkt betroffen. Diese erleben urplötzlich ein Gefühlschaos, in dem auch Sünde (geprägt durch den Umgang der christlichen Religionen damit, die Selbsttötung verdammen und z.B. Beisetzungen in geweihter Erde bis 1983 verboten hatten), Schuldgefühle, dass man die seelische Not der Verstorbenen nicht früher erkannte und ihren Tod hätte verhindern können, und Scham über die wahre Todesursache eine grosse Rolle spielen. Sie sind in ihrer tiefen Trauer ausserdem selbst suizidgefaehrdet, viele sterben tatsächlich in der Folge daran, dass sie den Suizid einer ihnen nahestehenden Person nicht verkraften. Um all das zukünftig hinter uns zu lassen, ist über Suizid zu sprechen die beste Vorbeugung. Aber auch hier kommt es sehr auf das „wie“ an, im privaten wie im öffentlichen Bereich.
Damit sind wir bei den Gründen für Suizid angelangt. Vor Psychosen und Suchterkrankungen (dem langsamen „Suizid auf Raten“) stehen unbehandelte Depressionen hier an erster Stelle. Diese Krankheit wird bis heute bei Männern bei weitem nicht so häufig diagnostiziert wie bei Frauen, und ist vielleicht mit noch mehr Tabus belegt als andere psychische Erkrankungen, die übrigens fast alle einen depressiven Anteil mit sich bringen und damit das Suizidrisiko erhöhen. Krass formuliert: Männer bringen sich eher um, als zum Psychiater zu gehen, und das hat natürlich viel mit dem auf Härte und Stärke aufbauenden männlichen Selbstbild unserer Gesellschaft zu tun, und der Tatsache, dass ihnen der Zugang zu ihren eigenen Gefühlen oft nicht möglich ist und noch weniger, darüber zu sprechen – das, was heute „toxische Maskulinität“ genannt wird, hat daher nicht nur für Frauen tödliche Konsequenzen, sondern auch für Männer selbst.
Kommentare wie „dem hätte ich das überhaupt nicht zugetraut, der hatte so eine positive Ausstrahlung“ oder „ich verstehe das gar nicht, der war so ein guter Mensch und hätte jemandem in Not sein letztes Hemd gegeben“, sind daher zweischneidig, ja kontraproduktiv und zeigen das Dilemma – nach aussen gibt sich der Depressive als glücklich und zufrieden, um nicht völlig sozial geächtet zu werden, aber auch um irgendwie weiter funktionieren zu können – er beugt sich also dem Tabu, bis er keine Kraft mehr dafür hat, den Schein aufrecht zu erhalten. Der große Schauspieler Robin Williams, der ebenfalls sein Leben selbst beendet hat, sagte hierzu: „Ich denke, die traurigsten Menschen geben sich immer die größte Mühe, Menschen glücklich zu machen, weil sie wissen, was es heißt, sich absolut wertlos zu fühlen und sie nicht wollen, dass sich irgendjemand genau so fühlt.“. Es ist daher enorm wichtig, einen wertschätzenden, offenen und wirklich empathischen im Sinne von mitfühlenden Umgang miteinander zu pflegen, und auf Häme, ständige Be- oder gegenseitige Abwertung zu verzichten – du weißt nie, wie tief du jemand anderen durch unbedachte Worte verletzt.
Wer ist besonders gefährdet?
Psychische werden gefolgt von körperlichen Erkrankungen oder Behinderungen, gerade bei älteren Menschen, sowie Schmerzen und Einsamkeit. Marginalisierte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung und junge Migrantinnen haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko. Die DGS (Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention) / NaSPro (Nationales Suizidpräventionsprogramm, für weitere hilfreiche Organisationen siehe Quellen) fassen zusammen:
„Traumatisch erlebte Ereignisse wie der Verlust wichtiger Bezugspersonen, schwere Erkrankungen, Veränderungen von Lebensumständen wie durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder Untersuchungshaft bzw. schon die Angst vor solchen Ereignissen können bei vulnerablen Menschen Suizidgedanken auslösen. Jedoch ist das Vorhandensein auch mehrerer Risikofaktoren kein Indikator für Suizidgefährdung und keiner dieser Faktoren erklärt einen Suizid alleine.“ Hinzu kommen Trennungen, die oft auch sogenannte „erweiterte Suizide“, sprich Femizide, nach sich ziehen.
Es kommt also meist vieles zusammen, in der Regel über eine lange Zeit. Damit ergibt sich jedoch auch die Möglichkeit der Vorbeugung, denn es gibt Anzeichen, die jeder kennen sollte. „Freunde fürs Leben“, eine Vereinigung, die sich für Suizidprophylaxe speziell für Jugendliche und junge Erwachsene einsetzt, fasst zusammen:
- jemand Suizidgedanken äußert
- jemand einen Plan hat, wann, wie und wo er bzw. sie den Suizid begehen will
- jemand Tabletten sammelt oder sich eine Waffe besorgt
- jemand bereits einen Suizidversuch begangen hat
- jemand einen Abschiedsbrief oder Ähnliches schreibt
- sich eine depressive oder suizidgefährdete Person plötzlich besser fühlt
(Manchmal führt die Entscheidung für einen Suizid zu einem Stimmungshoch, da die Person erleichtert ist, einen gefühlt langen, depressiven und belastenden Zeitabschnitt bald beenden zu können.)
Die folgenden Punkte können ebenfalls darauf hindeuten, dass ein Mensch suizidal ist:
- bei allgemeiner Hoffnungslosigkeit und Selbsthass
- wenn sich jemand plötzlich nichts mehr aus liebgewonnenen Dingen macht
- bei starken Veränderungen der Ess- und Schlafgewohnheiten
- wenn sich jemand von seinen Freunden und Freundinnen abkapselt
- wenn jemand nach der Trennung von einem geliebten Menschen in tiefe, nicht enden wollende Traurigkeit und/oder Depressionen verfällt
- bei plötzlicher Verschlechterung der Schulnoten oder der Arbeitsleistung
- bei ständiger Rastlosigkeit und Überaktivität
- wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sich jemand selbst verletzt
- wenn jemand sagt, dass er bzw. sie sich selbst verletzen will
- bei Drogen- und Alkoholmissbrauch
Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die von Suizid sprechen, es nicht tun. Aber es ist auch falsch zu glauben, dass eine Person, die entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen, nicht mehr von ihrem Vorhaben abzubringen ist. Die meisten sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch zu sterben.“
Man weiß außerdem, dass Menschen vor einem Suizidversuch deutlich häufiger als sonst zum Arzt gehen, offensichtlich ihre Probleme dort jedoch nicht erkannt werden oder sie sie nicht aussprechen konnten, aus Angst, nicht ernst genommen zu werden oder soziale Kontakte zu verlieren – ein weiterer Grund, sensibler für diese Thematik zu werden.
Dies gilt insbesondere auch für die Medien. Gerade Suizide bekannter Persönlichkeiten sind Ereignisse, die öffentliches Interesse erregen und über die zwangsläufig berichtet wird. Dabei besteht jedoch zum einen die Gefahr der Imitation, dem sogenannten „Werther-Effekt“, die vor allem diejenigen betrifft, die bereits suizidgefährdet sind und/oder sich mit der verstorbenen Person verbunden fühlen. Daher ist eine sensible Berichterstattung extrem wichtig, denn besonders dann, wenn Details der Art und Weise oder Lokalität veröffentlicht wurden, steigt das Risiko, dass sich Nachfolgesuizide am selben Ort oder nach der gleichen Methode häufen. Das zieht sich tatsächlich vom Erscheinen von Goethes Buch im Jahr 1774 über Nationaltorwart Robert Enke bis hin zu Chester Bennington (LINKIN PARK), der 2017 zwei Monate nach dem Freitod seines Freundes Chris Cornell (SOUNDGARDEN) an dessen Geburtstag für sich selbst dieselbe Todesart wählte. Es gibt daher mittlerweile Presse-Leitlinien für angemessene Suizid-Berichterstattung, vielleicht sollte man angesichts dieses Risikos jedoch auch einmal überdenken, wie man selbst in sozialen Medien damit umgeht. Und auch ob man tatsächlich einen Anspruch darauf hat, detailliert über die Gründe eines Suizids unterrichtet zu werden, nur weil es sich um eine prominente Person handelt – rein rechtlich hat man ihn nicht, da Persönlichkeitsrechte hier über Öffentlichkeitsrechten stehen. Ausserdem belastet ein Medienwirbel auch die Hinterbliebenen nochmal extrem zusätzlich.
Was kann man also tun, um Suizide zu verhindern?
Ganz praktisch ist da zum einen die Einschränkung von Möglichkeiten: Waffen, Medikamente, Absicherung von Bauwerken. Weitere Mittel der Suizidprävention sind niedrigschwellige Behandlungsangebote und die Förderung die Früherkennung von Suizidgefährdung und von psychischen Erkrankungen, und nicht zuletzt deren Entstigmatisierung. Es geht um ein gesünderes gesellschaftliches Klima: sich Schwäche oder Überforderung eingestehen und um psychologische Hilfe bitten muss normal werden, wie gerade im Falle der Leistungssportler bei Olympia gesehen. Simone Biles und Naomi Osaka haben Exempel statuiert indem sie sagten, ich schaffe es nicht, meine psychische Gesundheit ist mir wichtiger als ein Titel; dies sollte Normalität werden. Ebenso hilft der Trend zur ständigen Selbstoptimierung und dem Vergleich mit anderen nicht dabei, zu einem gesunden und zufriedenen Selbstbild und einer nicht nur auf Wettbewerb getrimmten Gesellschaft zu kommen. Nicht zuletzt ist ein gesellschaftliches Klima, in welchem die Suizidproblematik wahr- und ernst genommen wird, und sowohl Gefährdete jederzeit entsprechende Behandlung bekommen können, als auch Hinterbliebenen geholfen wird statt sie zusätzlich vor juristische Probleme zu stellen oder sozial auszugrenzen, vonnöten.
Der akut Gefährdete ist jedoch in ärztlicher Hand am sichersten. Die DGS sagt: „Suizidgefährdung ist behandelbar, wenn der oder die Betroffene sich auf eine Behandlung einlässt. Nicht selten ist allerdings eine große Herausforderung, Suizidgefährdete davon zu überzeugen, dass sie professionelle Hilfe benötigen. Je nach Problemlage und in Übereinkunft mit den Betroffenen kann die Behandlung ein breites ambulantes (und manchmal auch stationäres) Behandlungsangebot umfassen.“. Auch hier sind also Familie und Freunde gefordert, die den Hilfeschrei Suizidalität wahr- und ernstnehmen, zuhören, Hilfe holen und den Kranken liebe- und verständnisvoll begleiten. Und dies gilt genauso für eine Szene, die sich als inklusiv und solidarisch begreift – lasst uns also auch hier vorangehen.
Auch das hat Robin Williams gewusst:
„Everyone you meet is fighting a battle you know nothing about. Be kind. Always.“
TRIGGERWARNUNG & NOTFALLNUMMERN
Falls sich beim Lesen dieses Artikels unangenehme Gefühle bei Dir eingestellt haben oder du dich verunsichert fühlst, weil du vielleicht gerade selbst in einer Krise steckst, dann solltest du dies unbedingt ernst nehmen! Es hilft immer, mit jemandem darüber zu reden, die Telefonseelsorge ist 24/7 anonym und kostenfrei für dich da nach dem Motto „Sorgen kann man teilen“:
Rufnummern: 0800 / 111 0 111 – 0800 / 111 0 222 – 116 123
Falls dir das lieber ist, kannst du dich hier mit jemandem per email oder Chat austauschen: https://online.telefonseelsorge.de/
Tagsüber gibt es bundesweit das kostenfreie Angebot des Info-Telefon Depression: 0800 3344533, wo du weiterführende Infos zu Anlaufstellen in deiner Nähe erhältst.
In akuten Krisen wende dich jedoch bitte an deinen Arzt oder Therapeuten, bzw. die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112.
Österreich: www.telefonseelsorge.at
Schweiz: www.143.ch
Quellen & weitere Links:
- Freunde fürs Leben bieten Aufklärung über die Themen Suizid und seelische Gesundheit für Jugendliche und junge Erwachsene
- Nationales Suizidpräventionsprogramm Deutschland (NaSPro)
- Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
- AGUS – Angehörige um Suizid e.V. setzt sich für die Belange und Interessen Suizidtrauernder ein
- TREES of MEMORY e.V. ist ein unterstützendes Netzwerk von und für von Suizid Betroffene
- Hilfe nach Suizid Online-Programm für Hinterbliebene nach Suizid der Medical School Berlin
- MEN-ACCESS – Suizidprävention für Männer Forschungsprojekt zu webbasierter Erreichbarkeit in der Suizidprävention für Männer
- Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Sonstige verwendete Literatur:
– Thomas Lochthowe (2008): Suizide und Suizidversuche bei verschiedenen Berufsgruppen. Dissertation, Uni Würzburg
– Manfred Otzelberger (2013): Suizid. Das Trauma der Hinterbliebenen. Erfahrungen und Auswege. dtv.