IRON MAIDEN – Senjutsu
~ 2021 (Parlophone Label Group) – Stil: Heavy Metal ~
Für viele Kuttenträger ist es das Ereignis des Jahres: IRON MAIDEN veröffentlichen mit ´Senjutsu´ ein weiteres, heiß ersehntes Studioalbum. Um diesem Umstand gerecht zu werden, können wir Euch drei Kritiken des 17. Studioalbums, täglich eine neue, mit jeweils recht unterschiedlichen Sichtweisen präsentieren.
´Senjutsu´, ´Senjutsu´ – überraschend erscheint am ersten Freitag im September ein brandneues Studioalbum von IRON MAIDEN, auf den Tag genau 37 Jahre nach ´Powerslave´, und es ist durchaus die beste Songsammlung von IRON MAIDEN in diesem Jahrtausend geworden, seit der Rückkehr von Bruce Dickinson, womöglich sogar seit ´Seventh Son Of A Seventh Son´ und den unantastbaren ersten sieben Studioalben.
´Senjutsu´ ist mit seinen 80 Minuten das zweite Doppel-Album in Folge. Denn IRON MAIDEN nehmen sich die Freiheit, ihre epische und progressive Ader auszuleben. Nur zwei Kompositionen laufen unter sechs Minuten über die Ziellinie. Es gibt immerhin zwei Siebenminüter, einen Acht- und einen Neunminüter und zum Abschluss drei Songs über zehn Minuten in Folge anzufeuern. Wer also die schnelle Befriedigung sucht, beschäftigt sich entweder mit sich selbst oder hört sich schlicht das Frühwerk der Briten und die Hymnen aus diesem an. Wer allerdings ausgefeilte Kompositionen und fortwährend singende Gitarren sucht, ist bei der Langzeitwirkung von ´Senjutsu´ bestens aufgehoben. Andere Formationen würden schließlich für diese Gitarrenläufe bereits ihre Grandmother dem nächstbesten Discounter zu Füße werfen und verkaufen. IRON MAIDEN können allerdings obendrein immer noch einen großartigen Bruce “The Air Raid Siren” Dickinson aufbieten und lassen die Jungen Wilden der vergangenen Jahre wie gackernde kleine Küken im vom Fuchs längst erspähten Auslauf erscheinen.
Indes erhält ein IRON MAIDEN-Studiowerk mit ´Senjutsu´ erstmals einen Albumtitel, der nicht in englischer Sprache ist. Nicht zum ersten Mal, sondern bereits zum sechsten Mal in Folge saß dabei Produzent Kevin Shirley an den Knöpfchen und könnte vielleicht noch eines Tages Martin Birch und seine acht Studioproduktionen übertreffen, außer IRON MAIDEN brauchen in Zukunft immer solch eine lange Periode wie zwischen ´The Book Of Souls´ und ´Senjutsu´.
Mit einem Schlag steht der Titelsong ´Senjutsu´ (> ´The Sound Of Distant Drums´) mitten im kriegerischen Getümmel, singende Gitarren und Gefechtstrommeln laden nach der gewonnenen Schlacht zum gemeinsamen Schunkeln, und in rauen Mengen Met zu trinken, ein. Die Rede ist von Eindringlingen aus dem Norden, die eine zu verteidigende Mauer schon abwehren wird (“We can hear far away are the sound of distant drums and they need everyone at the wall. So the day of our judgement has now begun to fall.”). Runter die Visiere und hoch die Schwerter, zur klassischen MAIDEN-Nummer ´Stratego´ (> ´Beyond The Dark´), mit einer leichten und brillanten Steigerung im Refrain, darf gesungen und im traditionellen Galopp durch die Wälder oder über die Steppen hinweg geritten werden. Auf diese urtypische Art und Weise haben ganze Horden von Formationen ihr musikalisches Universum aufgebaut.
In der Wüste spielt derweil eine Akustikgitarre auf, ehe ´The Writing On The Wall´ richtig im klassischen Siebzigerjahre Southern Rock-Groove einsteigt und sich zu einer visionären (“A land of hope and glory building graveyards for the brave.”) sowie heroischen Bruce Dickinson-Nummer entwickelt. Einer der vier, allein von Steve Harris komponierten Songs ist das episch lange ´Lost In A Lost World´, das erst zur Akustikgitarre die Stimmung aufbaut (“All is not it seems to be on the outside. Sometimes what appears to be is a show.”) und sich nach Erreichen eines flotteren Tempos zu einem stampfenden Koloss mit gewohnt schwingenden Melodien entwickelt. Ausnahmsweise in erhöhter Schnelligkeit und in aller Kürze von vier Minuten besitzt ´Days Of Future Past´ in seinem rockenden Element einen halb-epischen Refrain zum Mitsingen für die Massen (“The days of future past to wander on the shore. A king without a queen to die forevermore. To wander in the wasteland. Immortal to the end. Waiting for the judgement. But the judgement never ends.”). Die Janick Gers/Steve Harris-Komposition ´The Time Machine´(> ´Not A Preacher´) singt Bruce Dickinson bereits im Intro äußerst gefühlvoll. Die keltischen Melodien eignen sich natürlich abermals zum Mitsummen. Dagegen ist die von Wellenrauschen eingerahmte, halbballadeske Komposition ´Darkest Hour´ von dramatischer Natur und baut sich dementsprechend auf. Dennoch Fäuste in die Höhe oder Luftgitarre zum Solo recken.
Obgleich IRON MAIDEN auch bei den folgenden drei, von Steve Harris verfassten Epics nicht mit Intros geizen, heißt es spätestens jetzt, alle Arme und Fäuste in die Luft zu reißen. Allein diesen folgenden 34 Minuten muss längst ein Klassiker-Niveau attestiert werden. Das, einen leichten Folk-Touch besitzende, und an ´The Clansman´ erinnernde ´Death Of The Celts´ wird im Laufe seiner zehn Minuten vermeintlich immer schneller und schneller. Wer sich beim vertikalen Kopfnicken bereits verausgabt hat, fällt auf die Knie und lässt Sabber aus den Mundritzen tropfen, erst recht zu den hochkochenden Soli-Künsten. Die dunkle und heulende, einer Doom-Formation würdigen Melodie des zwölfminütigen ´The Parchment´ kehrt alle emotionalen Steigerungen nach außen. Wer noch nicht beim Lied zuvor in die unterbewussten Höhen stieg oder an der Decke festklebte, hebt spätestens jetzt federleicht vom Erdboden ab und bleibt von der puren Elektrizität der Gitarren an den Wolken haften. Letzten Endes warten IRON MAIDEN noch mit ihrem ersten Song mit dem Wörtchen “Hell” im Titel auf. ´Hell On Earth´ beendet nach rauschenden elf Minuten das 17. Studioalbum von IRON MAIDEN (“I wish I could go back. Will never be the same again. Bled for all upon this hell on earth. And when I leave this world. I hope to see you all again. On the other side of hell on earth.”), das sie im sechsten Jahrzehnt ihrer Aktivitäten, von den Siebzigerjahren des letzten bis in die Zwanzigerjahre des aktuellen Jahrhunderts, unter die Heerscharen tragen. Senjutsu! Senjutsu! – Taktik und Strategie, wie der Japaner betonen würde.
(9 Punkte)
Michael Haifl
Hätte es da nicht die glitzernden Metal-Riffs und Bruce Dickinsons Höllen-Geheul, könnte man IRON MAIDEN mittlerweile in weiten Teilen mit einer Prog-Band verwechseln. Songs mit inakzeptabler Radiolänge, Themen, die viele Jahrhunderte zurückreichen, andererseits aber auch bis hin in eine apokalyptische Zukunft schwingen, sowie die präzise Art und Weise, wie jede einzelne Note gespielt wird – alles ist vorhanden!
Sechs Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Werks ´The Book Of Souls´ vergangen, und der legendäre britische Act kehrt nun zurück, um mit ´Senjutsu´, einem ehrgeizigen Doppelalbum, die längste Lücke zwischen zwei Alben zu schließen – und es bleibt dem Kernsound der Band nach wie vor treu und fördert gleichzeitig IRON MAIDENs anhaltende, unnachgiebige musikalische Neugier und Kreativität.
Das Album-Setting, inklusive dem Artwork mit dem Dämonen-Samurai, ist dieses Mal inspiriert von der östlichen Mythologie und anderen religiösen Ikonographien, und die sechs Briten machen somit praktisch genau dort weiter, wo sie 2015 mit dem Vorgängerwerk aufgehört hatten.
Getreu den jüngsten öffentlichen Behauptungen der Bandmitglieder gibt es hierauf allerdings gleich einiges Material, das sicherlich zahlreiche langjährige Hörer überraschen wird. Der eröffnende Titeltrack etwa projiziert eine unterdrückte, triste Energie, und vor allem die Synthesizer verleihen dem Song eine unglaublich dunkle Aura – eine durch und durch beunruhigende Spannung, die auf eine Erlösung hindeutet, sie aber nie wirklich erreichen wird.
Das darauffolgende ´Stratego´ ist hingegen im allseits charakteristischen MAIDEN-Galopp, angeführt von der Rhythmusgruppe um McBrain und Harris und angetrieben von der geschickten Virtuosität der Gitarristen Smith, Murray und Gers. Dickinson beweist einmal mehr, dass er im Alter keineswegs die Kraft und Beherrschung seiner Stimme verloren hat und die Songs damit angemessen färbt und die Intensität entsprechend anpasst. Seine monströse Stimme ist hierauf sowohl suggestiv als auch neckend und kommt vor allem während des massiven Refrains zur vollen Blüte. Das Stück gehört mit weniger als fünf Minuten neben ´Days Of Future Past´ zu den kürzesten und wirkt damit schlank, fokussiert und auf den Punkt gebracht.
´Senjutsus´ Herz schlägt jedoch eindeutig in seinen Epen im Prog-Format! Die letzten drei Songs liefern allesamt jeweils mehr als zehn Minuten, sind langsam aufgebaut und bestechen mit betörenden Duett-Gitarren und einem opernhaften Gewicht. Dabei erinnert beispielsweise ´The Parchment´ deutlich an den Song ´Powerslave´, was vor allem die energiegeladene und orientalisch anmutende Melodie betrifft. Wie die anderen beiden Mammutwerke auch, wurde es von Harris in Alleinregie geschrieben, startet mit einem sanften, akustischen Intro, und verdeutlicht einmal mehr den cineastischen Songwriting-Ansatz des MAIDEN-Masterminds.
Nach einer vier Jahrzehnte währenden Karriere voller epischer Alben, ist ´Senjutsu´ womöglich sogar eines ihrer epischsten, prall gefüllt mit höchstdetailliertem, nuanciertem und zugleich mitreißendem Material.
Dass IRON MAIDEN diese Art von Beständigkeit so tief in ihrer Karriere erreichen, ist allemal etwas wert. Dass sie immer noch versuchen, sich selbst zu übertreffen – und es beinahe schaffen – sollte rundherum applaudiert werden. ´Senjutsu´ ist ein modernes Juwel von einer der größten Metal-Bands aller Zeiten – wenn nicht sogar der absolut größten.
(9,5 Punkte)
Marcus Köhler
Ich zähle mich nicht zu den IRON MAIDEN-Hassern. Im Gegenteil. Immerhin war diese Band für mich bis Mitte der Neunziger äußerst relevant. Dann gingen wir eher getrennte Wege. Sicher habe ich mir alle Alben nach „unserer Trennung“ angehört, nur berührt hat mich keines mehr. Zum Vierzigsten hauten sie dann ´The Book Of Souls´ raus. Nett. Aber wie sagt man heute: “Nett ist die kleine Schwester von Scheiße!?” Klar, ´The Book Of Souls´ war davon zwar Meilenweit entfernt, aber schon damals und im Rückblick sogar deutlich mehr, war es ein überfrachtetes, selbstverliebtes Album einer Band, die machen kann was sie will, weil sie weiß, ihre Alben verkaufen sich eh wie geschnitten Brot. Und genauso ist es auch auf ´Senjutsu´. Viel zu lang, viel zu wenig Spannung, viel zu viel unteres Mittelmaß und dann noch drei Songs mit über zehn Minuten Länge. Das sind nicht meine IRON MAIDEN.
Von der dazugehörenden, unverschämten Hochpreispolitik der Vinyl-Varianten ganz zu schweigen.
Drei Songs des neusten Releases sind hervorzuheben. Eventuell noch ein bis zwei mit Stärken, die sich bei längerem Auseinandersetzen offenbaren. Der Rest ist schlicht Füllmaterial. Für MAIDEN-Fans ist es ja beruhigend zu wissen was man für sein Geld bekommt. Ist das Gleiche wie bei AC/DC. Überraschungen sind ausgeschlossen. Und genau hier liegt eines der Probleme. Man weicht nicht vom musikalischen Fundament der letzten Alben ab, nein, reichert dieses sogar mit vielen unnützen und langen Aspekten an. Mr. Harris sollte sich mal wieder die Aussage – in der Kürze liegt die Würze – zu Herzen nehmen. Denn es gab mal eine Zeit, da waren IRON MAIDEN schon innovativ, um genau jenen Aussagen entgegen zu wirken, die man auf AC/DC anwendet.
Die erste Single zum neuen Album war ja eher belanglos und komplett auf „Sicherheit“ getrimmt. Erst mit der zweiten, ´Stratego´, kam etwas Spannung auf. Obwohl auch hier der Begriff „altbewährtes Mittelmaß“ dominiert und Überraschungen komplett vom Tisch wischt. Es spricht ja nichts dagegen, sich immer wieder zu wiederholen, aber dann bitte wirklich mit spannenden und auch aussagekräftigen Songs. Aber auf ´Senjutsu´ ist eine Art Langeweile und kraftloses Genudel eher Standard. Da wirkte sogar der Vorgänger erfrischender – und das will schon was heißen.
Eher erschreckend, die hier und da herauszuhörenden Keyboardeinsätze, dazu viel zu viele „progressive“ Elemente. Die gab es zwar schon immer, aber hier kommt es bei den überlangen Stücken diesbezüglich doch zu einer deutlichen Überfixierung
´Lost In A Lost World´ ist aus meiner Sicht einer der stärksten Tracks des Albums, gerade weil man im Mittelteil das liefert wofür IRON MAIDEN stehen. Dass das Stück sich langsam steigert, ist auch eher was MAIDEN-typisches, was dann auch vom Spannungsbogen her gefällt. Die drei Longtracks, ´Hell On Earth´, ´The Parchment´ sowie ´Death Of The Celts´, mit alleine schon über 30 Minuten Spielzeit, haben immer wieder mal gute Passagen, verlieren sich aber letztendlich in der Bedeutungslosigkeit, weil zu überfrachtet. ´Hell On Earth´ ist dabei der stärkste Song der drei Longtracks. Das um die sechs Minuten lange ´The Writing On The Wall´ ist eine weitere, der drei wirklich überzeugenden Nummern. Wobei hier Dickinson einen seiner besten Einsätze auf dem Album liefert. Anderseits ist es auch nicht zu überhören, dass sich der grundsätzliche Songaufbau der weniger langen Stücke doch ähnelt.
Nein, ´Senjutsu´ wird kein weiterer Klassiker der Briten. Man sollte sich vielleicht vom Drang der maximalen Selbstverwirklichung im Hause Harris lösen und den Begriff „heavy“ neu überdenken.
(6,5 Punkte)
Jürgen Tschamler
https://www.facebook.com/ironmaiden