ENSLAVED – Strie Draumar
~ Projektbeitrag zu Nynorsk Kultursentrum’s “Mitt Språk – Min Song” ~
Heimat, Geschichte und der Umgang mit dem Tabu seelischer Erkrankungen
Wir leben in aufgeklärten Zeiten, in denen Gefühlen jeglich notwendiger Raum gegeben wird, solange sie den Mitmenschen nicht schaden. Stimmt das tatsächlich? Betrachten wir Scham, wird es kompliziert – zum einen regelt dieses allen Menschen angeborene Gefühl ein respektvolles Miteinander, zum anderen kann Scham isolieren, extrem verletzen und, gesellschaftspolitisch gesehen, sogar töten. Die Scham steht zwischen Ehre und Tabu, und damit oft gerade einem gesunden Umgang mit Emotionen, aber eben auch mit allem, was „anders“ ist, entgegen. Wir werden daher als Gesellschaft in Zukunft nicht umhinkommen, offen und konstruktiv über Scham zu sprechen, auch wenn dies wahrlich keine leichte Aufgabe ist, da sie uns Menschen im Innersten, in unseren Grundfesten berührt. Es ist ENSLAVEDs Grutle daher nicht hoch genug anzurechnen, etwas zum Thema eines besonderen Stückes zu machen, was ein furchtbares Beispiel genau dieser verheerenden Verquickung von Scham und Tabu ist.
´Strie Draumar´, die unruhigen Träume, sind ENSLAVEDs Beitrag zum Projekt “Mitt Språk – Min Song” (Meine Sprache – mein Lied) des „Nynorsk Kultursentrum“. Vielleicht wisst ihr, dass Norwegen drei offizielle Amtssprachen hat; Bokmål ist am weitesten verbreitet, die am Polarkreis lebenden Sami schreiben und sprechen Samisk, doch immerhin 20% der Norweger drücken sich in Nynorsk, dem Dialekt der süd-/westlichen Landesteile aus. Zu ihnen gehören auch Ivar und Grutle, und so wurden sie gebeten, einen von vier Songs dieses Projektes in ihrer Heimatsprache beizusteuern. Sie nutzten diese Chance für ein Lied, das sich speziell mit der Geschichte ihrer Heimat, der Region um Haugesund, auseinandersetzt und gewollt ganz anders ist als ihre gewohnten Kompositionen. Es nimmt sich eines Themas an, das gern verschwiegen und verdrängt wird, eben tabu ist: der grausame historische, jedoch teils immer noch aktuelle Umgang mit seelisch kranken Menschen in der westlichen, von christlicher (Arbeits-) Ethik geprägten Welt.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Wie wurde denn früher mit den sogenannten “Wahnsinnigen”, wie man alle Arten von psychischen Auffälligkeiten nannte, umgegangen? Auf mehr als unmenschliche Art. Bereits seit der Antike bis mindestens in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden seelisch Kranke stigmatisiert, meist einfach aus der Gesellschaft entfernt und in entlegenen „Zuchthäusern“ weggesperrt. Im Mittelalter sah man ihre Erkrankungen als Werk des Teufels, also als Besessenheit an, für die es keine Heilung gab; dementsprechend liess man die Patienten bis an ihr Lebensende eingesperrt, oft angekettet vor sich hinvegetieren. Mit Beginn der wissenschaftlichen Anstaltspsychiatrie im 18. Jahrhundert entstanden dann drastische Behandlungsmethoden, wie diverse Arten grausamster Folter zur „körperlichen Aktivierung“, oder sogar operative Eingriffe wie die später verbotenen, weil hochriskanten persönlichkeitsverändernden Lobotomien* und Stromschlag-Behandlungen, die aus psychiatrischen Patienten nicht selten lebenslang pflegebedürftige Schwerstbehinderte machten. All dies ständig überdeckt von Scham und Schande, fragte man sich doch, wieso es gerade ein eigenes Familienmitglied treffen musste, das nun nicht mehr selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen, und somit keinen eigenen Beitrag als vollwertiges, produktives Mitglied der Gemeinschaft mehr leisten konnte? War das Gottes Strafe? Und wieso verhielt sich der Mensch auf einmal so anders, so beängstigend? Ist diese Krankheit vielleicht ansteckend, werde ich selbst am Ende auch noch „verrückt“? Die Ängste und Tabus wurden nicht weniger, seelisch Kranke bildeten den Bodensatz der Gesellschaft, tun dies vielleicht heute noch.
In ländlichen Gegenden ohne solche „Irrenanstalten“ fanden sich andere Lösungen, das „Problem“, den seelisch Kranken oder Behinderten, irgendwie vor der Öffentlichkeit und der eigenen Familie zu verstecken – aus den Augen, aus dem Sinn. Auch im damals abgeschiedenen, armen Westen und Süden Norwegens, wo das Leben hart und jede Hand für den Lebenserhalt wichtig war, wurde dies so gehandhabt, vom Sozialstaat oder einer umfassenden Gesundheitsversorgung war man vor 100 Jahren noch weit entfernt. Grutle berichtet, wie dieser Teil der Landesgeschichte auch seine eigene Familie prägte: einer seiner Urgrossväter wurde 1921 aus der Familiensaga gelöscht, offenbar lobotomisiert und „weggebracht“ in eine andere Stadt, wo er noch mehr als 30 Jahre lang, weit weg von seiner Familie, auf Bezahlung im Keller des Hauses von Fremden lebte. Details zu seiner Erkrankung und Geschichte kennt heute niemand mehr, umso mehr beschäftigte den Sänger das Wenige, was er noch erfahren konnte: „Zu seiner Zeit gab es keinen Platz für Kranke und Geisteskranke, und statt der psychiatrischen Versorgung unserer Zeit wurden Urgroßvater und viele andere in Kellern versteckt, um die Scham zu verbergen. Diese Geschichte brodelte in mir, seit ich in den 90ern von der Ungerechtigkeit erfahren habe, der Urgroßvater ausgesetzt war“. Mit ´Strie Draumar´ versucht er nun einen Schlussstrich unter seine Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel zu setzen.
Auch Ivar liess die Beschäftigung mit diesen Themen ebenfalls wieder in die Geschichte seiner Heimatregion tief eintauchen. Um das bedrückende Gefühl von dunklen Zeiten unter tiefen Dächern, gefangen in Armut, gesellschaftlicher Isolation, mächtigem Lutheranismus und ständig drohender Stigmatisierung für Sündig- oder Andersartigkeit heraufzubeschwören, hat er Musik geschrieben, die sich bei aller Eindrücklichkeit durch einfache, klare Strukturen auszeichnet. Sie ähnelt der Gitarrenbegleitung eines Barden, die sich zurückhält und vor allem eine düstere, schwere und verloren anmutende Stimmung erzeugt, die Grutles mal Sprach-, mal Knurr- und schliesslich eindringlich klaren Gesangsvortrag unterlegt, mit dem dieser das damalige Leben zu beschreiben versucht – den zerstörten Traum eines Jungen, aus der Hoffnungslosigkeit, Beschränkung und dem ewig gleichen Trott des kargen Lebens auszubrechen und echte Verbesserungen für sich und die Anderen zu schaffen. Ivar beschreibt seine Herangehensweise wie folgt: „Ich wollte diese Gelegenheit für einen etwas anderen musikalischen Ausdruck nutzen. Die wichtigste Inspirationsquelle lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Jimmy Page. (…) Wir könnten über Folk-Rock als Tradition sprechen; eine Tradition, die zusammen mit Metal und Prog-Rock die Basis der Musik bildet, die ich für ENSLAVED schreibe.“
Seine persönliche Sicht der in ´Strie Draumar´ behandelten Umstände ist klar: „Wenn es eine Gegend auf der Welt gibt, die mehr Licht und offene Fenster braucht, dann ist es der dunkle Westen und Süden (Norwegens), wo die Menschen in den letzten Jahrhunderten in Scham und seelischer Sklaverei gehalten wurden. Bis heute ist das so. Dafür muss man sich schämen, nicht für psychische Erkrankungen und Analphabetismus…”. Starke Worte, die sicherlich auch eine universelle Geltung haben. Lasst es uns besser machen – offen miteinander sprechen, Toleranz üben und Scham keine Chance lassen. Let’s break the stigma!
https://www.facebook.com/enslaved
https://www.nynorsk.no/mitt-sprak-min-song-enslaved/
*Lobotomie: umstrittener, oft missglückter und seit den 70er Jahre verbotener Eingriff bei verschiedenen psychischen Erkrankungen, der Nervenverbindungen im Gehirn und damit auch viele Leben endgültig zerstörte. Trotzdem gab es dafür 1949 den Nobelpreis für Medizin. Mehr dazu hier.