THY CATAFALQUE – Vadak
~ 2021 (Season Of Mist) – Stil: Avant-Garde Metal ~
Dieser Mann kennt keine Ruhe. Tamás Kátai ist ein kreativer Geist, der offenbar stets beschäftigt sein muss, am besten indem er ständig Neues ausprobiert. Allein mit THY CATAFALQUE legt er seit Album Nummer sechs, ´Sgurr´, im Abstand von ein bis maximal zwei Jahren neue Langspielplatten vor, denen es weder an Einfallsreichtum noch Qualität mangelt. Ganz im Gegenteil steigert er sich von Mal zu Mal, variiert die Ausrichtung und ist nun mit Nummer zehn, ´Vadak´, wie auch das eindrückliche Cover bestätigt, wieder einmal auf einem neuen Gipfel angelangt.
Nach ´Geometria´ und dem darauf folgenden, gleichzeitig volkstümlich-verspielten wie jazzigen ´Naiv´ ist sein künstlerischer Ausdruck über die Jahre immer freier geworden, die instrumentale Palette, mit der er Klänge malt, immer reicher. Keiner verschmilzt klare, entweder von Keyboards oder Gitarren vorgegebene Songstrukturen und Soundlandschaften besser mit progressiv-vertrackten, doch stets nachvollziehbaren Nebenstrecken, folkloristischem Erbe, Einflüssen aus Jazz und Neuer Musik sowie als Basis Black Metal-Attitüde, Schärfe und Klarheit. Er ist ein perfektionistischer Einzelgänger, der alles – inklusive des Coverartworks – selbst konzipiert, schreibt und einspielt, sich aber zur Ausführung die Unterstützung vieler weiterer Künstler holt; auf ´Vadak´ sind dies immerhin 17 Personen, die singen, Blech blasen oder die Redpipe, einen elektronischen Dudelsack bedienen (Andrei Oltean), trommeln oder Saiten schwingen lassen, darunter auch Stammpersonal wie Ausnahmesängerin Martina Veronika Horváth (MANSUR, NULAH, Ex-NIBURTA), die im Ohrwurm ´Köszöntsd a hajnalt´ glänzt.
Heraus kommt wie immer eine völlig neue und andere Welt: schwebend, pulsierend, ergreifend, kontrastreich, dynamisch und vor allem voller unterschiedlichster Gefühle. Wild und sanft, überbordend und zurückhaltend, selbstbewusst und introspektiv, intellektuell kühl und heißblütig-erdverbunden, zart, zerbrechlich, und ja, auch aggressiv – vor allem Letzteres fällt sofort auf, denn der Black Metal ist zurück, und zwar mit Vehemenz, Stücke wie ´Gömböc´, der Titelsong über die assimilierten Wilden, ´Vadak (Az átváltozás rítusai)´ oder eben der Opener ´Szarvas´ starten drastisch, dissonant, haben jedoch stets diese weiche Seele, die sich in atmosphärischen Zwischenspielen ergeht und den Song oft stimmungsmäßig komplett drehen. Meist geschieht das durch Kátais herausstechenden Trademark-Keyboardsound, der irgendwo zwischen Mike Oldfield, Vangelis, Jean-Michel Jarre und der Düsseldorfer Schule schwebt, sich in die Höhe schraubt und mäandert.
´Molo´ spielt mit Thrash- und Black Metal-Elementen, ´A kupolaváros titka´, eine Ode an die Heimatstadt Budapest, bleibt komplett im coolen Jazz, und zur Abwechslung mixt gleich darauf ´Kiscsikó (Irénke dala)´ Country mit Polkarhythmen, Blasensemble und tatsächlich auch einem Kinderlied, wie bereits der Titel sagt. Es gibt aber auch Prog-Kleinode wie ´Az energiamegmaradás törvénye´ oder das stark Wakeman-beeinflusste ´Piros-sárga´ zu entdecken, der ungarische Tastenzauberer scheint in allen scheuklappenfreien Musiksparten fest im Sattel zu sitzen, und damit ist ´Vadak´ gleichzeitig eine Empfehlung für Fans von DEAD CAN DANCE wie auch DORDEDUH, mit deren ´Har´ THY CATAFALQUEs diesjähriges Album um die Plätze in den Jahresendlisten kämpfen wird.
Entstanden Ende des sonderbaren letzten Jahres, ist es ein Herbst- und Waldalbum, und nimmt dessen Tiere als Spiegel unserer Selbst im Angesicht unserer Sterblichkeit, des unvermeidbaren Todes vor dem wir stets instinktiv zu fliehen versuchen. Tamás Kátai sagt dazu: „We, like all living creatures, are like forest animals chased by death through time and many of these songs are about fleeing, hiding and running either to the past or to the unknown. The record is very colourful, with more guest musicians than ever but also pretty dark and heavy other times.”. Diese warmen Klangfarben schweben wie fallende Blätter in einem neblig-goldenen Spätjahreslicht zu Boden, und beenden einen Vegetationszyklus, um im nächsten Frühling wieder auszutreiben. In dieser Stimmung verabschieden uns die „Wilden“, wie der Titel zu übersetzen ist, mit dem ätherisch-schönen Piano-begleiteten Melancholikum ´Zúzmara´, Ungarisch für Raureif, der sich irgendwann auch um unser Herz legen wird. Wer wird den Winter überstehen? Einen neuen Sonnenlauf beginnen? Keine Sorge – das Leben geht auch ohne uns weiter. Und Schönheit ist sowieso ewig.
(9 Punkte)
https://thycatafalqueuk.bandcamp.com/
https://tamaskatai.bandcamp.com/
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VÖ: 25.06.2021