LOU BARLOW – Reason To Live
~ 2021 (Joyful Noise) – Stil: Lo-Fi-Folk/Rock/Pop ~
Kaum ein anderer Künstler besitzt eine derart dicke Ader des Herzschmerzes wie Lou Barlow, dessen Karriere abseits von DINOSAUR JR. – ob nun mit SEBADOH, THE FOLK IMPLOSION oder als Solokünstler – immer wieder neue Geniestreiche hervorbrachte. Er war von jeher ein Chronist unerwiderter Liebe und selbstzerreißender Introspektion und es gab in den letzten drei Jahrzehnten nur wenige seinesgleichen, die einen derart herausragenden Output vorzuweisen hatten.
Auf seinem neuen Album ´Reason To Live´ arbeitet sich Barlow erneut durch den Lo-Fi-Folk, der seine Soloproduktionen von jeher prägte, aber diesmal schimmert es geradezu vor Optimismus und wahrer Lebenslust. Während sich die meisten Songs stilistisch nur geringfügig von seinen selbst aufgenommenen Lo-Fi-Beiträgen zu dem brillant weitläufigen ´Sebadoh III´ von 1991 unterscheiden, so ist die Variation in Ton und Stimmung ein definitives Upgrade.
Der Opener ´In My Arms´ etwa brilliert mit einem rückwärts gerichteten Gitarrenriff, das dem Song einen subtilen psychedelischen Wirbel verleiht. Das Stück sampelt zudem geschickt eine Kassettenaufnahme aus Barlows Anfangstagen und überlagert dadurch mit Klängen, die sich wie eine romantische Annäherung an die frühen SEBADOH anfühlt.
Es gibt ein starkes Gefühl der Versöhnung, das aus der Tiefe der Songs pulsiert und das speziell beim Titelsong des Albums hervorsticht. Die verletzendere Selbstreflexion des Vorgängerwerks ´Brace The Wave´, das noch viel tiefer in die persönliche Welt des Protagonisten eintauchte, ist mit Dividenden zurückgekehrt – ein neu entfachtes Feuer, das nun die Dunkelheit erhellt, die einst zur Selbstzerstörung zu greifen schien.
Bei Songs wie ´Over You´ scheint er sich danach zu sehnen, die Vergangenheit zu versöhnen, die nicht geändert werden kann, und er akzeptiert zugleich, dass die Narben nie heilen werden, sondern dass man auch lernen kann, mit ihnen zu leben.
´Love Intervene´ hingegen besticht durch eine vor Freude strahlende Verspieltheit. Die beiden Akustikgitarren überspringen sich hier immer wieder, während Barlows Stimme vor Freude in den Himmel fährt.
In ´Clouded Age´ findet sich ein dichtes Nebeneinander von klagendem Optimismus und verwinkelten, ineinander verschlungenen Akustik-Sounds – Riffs flattern aus, bevor sie wieder in sich zurückfallen.
Während das Album voll von schönem melodischem Folk ist, wird Barlow jedoch auch immer dafür bekannt sein, Musik mit treibenden Klängen zu produzieren. Auf ´Reason To Live´ reißt er den Vorhang zu dieser Welt lediglich mit ´Thirsty´ kurz auf, einem Song mit wunderbar schneidenden, Fuzz-geladenen Gitarren.
Nach dem beeindruckenden Comeback mit DINOSAUR JR. vor einigen Monaten kann Barlow nun auch mit seinem Soloprojekt durchaus überzeugen. Eben alle Jahre wieder – in einer weiteren, selbstreflektierenden Version.
(7,5 Punkte)