PHENOMENA – Still The Night (Kompilation)
~ 2020 (Cherry Red / Rough Trade) – Stil: (Bombast) Hard Rock ~
Ihr kennt das, oder? Es gibt diese Weihnachtsgeschenke, die werden ungesehen einsortiert. Krawatten in Schränke, Socken in Schubladen, Best-Of-Compilations in die gepflegte Sammlung zu den vorhandenen Studioalben, die man in-und-auswendig kennt und keine Veranlassung sieht, einen Mix statt den Originalen aufzulegen.
Außer man ist Glenn Hughes-Fan und total abgenervt, von drei PHENOMENA CDs nacheinander die entsprechenden Titel zu programmieren, da nur die erste ein Glenn-Only-Exemplar war. Dann ist die Zusammenfassung seines Schaffens bei diesem Klassikerprojekt natürlich ein feine Sache, auch wenn natürlich wiederum einige PHENOMENA-Hits fehlen, die man auf einer Kompilation von 1997 und der ´Anthology´ von 2019 (oder als Boxset der ersten drei Alben, oder 2018 einzeln remastert oder… oder…) findet. Macht das jetzt überhaupt Sinn? Wie gesagt – eben speziell für die expliziten Glenn-Fans schon… irgendwie.
Nun ja, um meiner Karin auf dem gemeinsamen Weg zur Arbeit einen duften Start in den Tag zu ermöglichen, läuft heute eben ´Still The Night´ im Auto, Karin ist glücklich und ich treffe die Entscheidung, noch ein Review zur letztjährig erschienen Hitsammlung abzuliefern, bevor die ersten beiden PHENOMENAs ausgegraben werden und unser Harald mir mit einem „Meilenstein“ von „Vergessenem Juwel“ zuvorkommt, Jürgen ein „Filetstück“ daraus brät oder der Chef vielleicht gar ein oder zwei „Lebensverlängernde Werke“ wittert. Die Kompilation ist rum, wir sind wieder zu Hause, Karin ist musikalisch total befriedigt und ich komme nicht umhin, alle vier PHENOMENA Scheiben nacheinander aufzulegen und mein zeitintensivstes Review seit langem zu schreiben…
Zumindest die ersten beiden Longplayer haben bei mir Klassikerstatus aufgrund der Kompositionen und Mitwirkenden. War auf dem gleichnamigen Debut ausschließlich die “Stimme des Rocks” selbst am Mikro und hatte daher fast einen Bandstatus, gesellten sich bei ´II – Dream Runner´ weitere Schwergewichte des charakteristischen Gesangs wie Ray Gillen, John Wetton und Max Bacon dazu und machten das Ganze dann als Hardrockversion von AYREON oder AVANTASIA für den Classicrocker unverzichtbar.
In diese Richtung, aber etwas härter rockend als bombastisch verzückend, ging die vierte ´Psycho Fantasy´ (2006 – u.a. mit SABBATHs Tony Martin), welche zwar das bombastische 80er PHENOMENA-Konzept nicht mehr wirklich trug, aber unabhängig vom Namen als hardrockendes Schmankerl absolut Spaß machte… und natürlich nach Glenns Auszeit auf der dritten Veröffentlichung wieder paar Songs mit “the-one-and-only” zu bieten hatte.
Doch erst ganz zurück zum Anbeginn: In einer weit entfernten Galaxis lange, lange vor der Machtübernahme des umtriebigen Frontiers-Projektimperators Serafino Perugino war PHENOMENA bereits von Anfang an ein Projekt der Brüder Mel (Gitarre – zusammen mit Glenn Hughes und PRIESTs Dave Holland Gründungsmitglied von TRAPEZE und später WHITESNAKE) & Tom Galley (Mastermind & Produzent) und dem später stetig stärker werdendem Einfluss von Co-Produzent Wilfried F. Rimensberger, der eine Vision von multimedialem Rockkonzept inklusive filmischer Umsetzung, Musical und Videospiel ausbrütete. Die Finanzierung des Kinofilms platzte kurz vor Drehbeginn und der Shutdown der Homepage 2016 erklärt den Rest.
Doch das gemeinsame Kind PHENOMENA ist in jungem Alter zumindest unter Classic-/Hardrock-Feinschmeckern ein ebenso kultig verehrtes Werk wie Dario Argentos gleichnamiger Film aus der gleichen Epoche unter Horrorfans. Leider verstarb Mel Galley bereits am 1. Juli 2008, so dass ohne sein fantastisches Gitarrenspiel nach der vierten Scheibe von 2006 für mich persönlich alles Weitere in Sachen PHENOMENA keinen Sinn mehr macht, obwohl sein Bruder Tom die Fäden im Hintergrund zog, was auch die Kompositionen betraf.
Nur für diejenigen mit unstillbarem Wissensdurst: ´III – Innervision´ ohne Glenn und Mel (1992 – mit Keith Murell wiederum als einzigem Sänger, Scott Gorham – ja der von THIN LIZZY und als Gast Brian May – ja, der von QUEEN) war nicht wirklich das PHENOMENA, aber zumindest ein starkes Hardrockalbum zwischen FOREIGNER, JOURNEY und HEART, das wohl seinen 80er-Spirit bei Veröffentlichung nicht mehr ausspielen konnte; ´Blind Faith´ (2010) und ´Awakening´ (2012) fanden leider niemals den Weg in mein Bewusstsein, geschweige denn mein Ohr. Da aber über beide Scheiben verteilt Robin Beck, Mike DiMeo, Ralf Scheepers, Mat Sinner, Toby Hitchcock, Rob Moratti und Terry Brock agieren, muss ich wohl wirklich umdenken und eine Shopping-Session bei Discogs einlegen… damn!
Und nun genug der Information, jetzt geht’s an’s Eingemachte. Die Musik. Die ist nämlich zumindest für den Newcomer auf dieser Sammlung essentiell und bunt gemischt. Zur Vereinfachung entzerre ich die Reihenfolge und schnüre die Titel der jeweiligen Scheiben extra für euch zusammen.
PHENOMENA I: Das auch auf dem Studioalbum zusammenhängende Triple ´Still The Night´, ´Dance With The Devil´ und ´Kiss Of Fire´ (was für ein Anfang, was für ein Gitarrensolo !) sind verdammte Meisterwerke, die bei uns auf jedem Sampler vorhanden waren, auf jeder Party gespielt wurden und eine eigenes Drama auf dem ersten Album kreierten und rangieren – stilistisch teilweise ähnlich – für mich noch vor den besten Hardrockfetzern von einem Gary Moore. Dazu diese fetten, genialen 80er Keyboardsounds von Don Airey und Richard Bailey über dem kraftvollen Schlagzeugspiel von Cozy Powell und Neil Murrays treibenden Bass.
Auf der emotionalen Seite zeigt Glenn selbst einer smooth operatenden SADE (Adu) mit ´Phoenix Rising´, wie der samtig-sanfte Gefühlshauch ins Mikro funktioniert, bevor er ausbricht. Bei allen SURVIVORn wird das stampfende ´Believe´ für Feuchtgebiete in der Unterwäsche sorgen, auch Rocky Balboa wäre damit ein weiterer Sieg gelungen. Sehr atmosphärisch kommt auch das straighte ´Who’s Watching You´ mit mächtigem Orgeloratorium rüber, ´Hell On Wings´ bezaubert mit swingenden Doppel-Leads die tanzbereite, episch-zarte Hymnenfraktion und die ´Twilight Zone´ lässt euch in den Sphären der 80er Keyboard-Rock-Hits verschwinden. Lediglich das den Projektnamen tragende Keyboard-Outro fehlt hier zum perfekten Glück.
PHENOMENA II – Dream Runner: ´Surrender´ knallt richtig schön los und trifft genau den Ton der ansonsten sehr eigenen Atmosphäre des Debüts. Selbst wenn’s danach bei ´Hearts On Fire´ mäßig spannend AORig wird, reisst’s Mr. Hughes alleine schon in den Strophen durch seinen Gottgesang raus, genauso wie den knallenden Stampfrocker ´Double 6, 55, Double 4´.
PHENOMENA IV – Psycho Fantasy: Der lässige Übergroover ´How Do You Feel´ versprüht sommerlich-flockiges Westcoast-Feeling, launig erklingen auch der saubere Riff-Rocker ´Touch My Life´ und das fast schon klassisch-metallische ´Higher´, aber hey – wir reden hier über “The Voice Of Rock” – der alles veredelt und mit seinem Goldkehlchen zum Glänzen bringt.
Woher ´Running With The Pack´ kommt, weiß nur der Schöpfer, denn der findet sich auf keiner meiner vier Silberlinge, dafür aber auf der ´Anthology´ von 2019. Dieser Gary Moore-artige Hardrocker dürfte aus der Anfangszeit von PHENOMENA stammen, hat es wohl aber nicht auf’s Debüt geschafft. Aus den allerersten Sessions übrig geblieben ist auch das demoartige ´Assassins Of The Night´, welches auf der 1997er Best-Of ´Project X 1985-1996´ vorhanden war und ebenfalls ein schönes Stücklein Hardrock darstellt.
Man bekommt also für kleines Geld das (fast) komplette, selbstbetitelte Überwerk “I” plus den vermixten 12″-Remix von ´Still The Night´, der so grässlich ist und einmal mehr zeigt, wie bescheuert damals die Zeit der soundeffektüberlagerten Maxi-Singles war. Dazu gesellen sich die fetten Hardrockbeiträge von II & IV plus die zwei Compilation-Exoten.
Aber bei aller Liebe zu Glenn komme ich nicht umhin, hinterher direkt nochmal ´II – Dream Runner´ aufzulegen, um in den 80ern zu schwelgen und mich komplett abzuräumen mit Knallern wie ´Stop´ oder ´No Retreat – No Surrender´ mit einem überragenden Ray Gillen, dem typischen ASIA-Hit ´Did It All For Love´ vom unvergessenen John Wetton, der fetzenden ´Jukebox´, über der die einmalige Stimme des einzigartigen Max Bacon thront, wie auch beim wunderschönen, epischen Abschlusssong ´It Must Be Love´ – und mir wird einmal mehr mit einem Bombensound bewusst, dass die Glenn Hughes Titel auf dieser Scheibe nicht die einzigen Höhepunkte waren!
Unstillbare Hughes-Fans schlagen sofort zu (und schauen, dass sie den Meister – sobald möglich – nochmal auf der Bühne sehen, denn er hat’s auch live und in Farbe immer noch drauf!), Bombastfans greifen zu I & II und der Rest von euch hat hoffentlich bereits alles. I love you all.
EPILOG: Nach akustischer Sichtung der letzten beiden Longplayer werde ich nicht eher ruhen, bis ich diesbezüglich das gesamte Oeuvre von Tom Galley und allen seinen Mitstreitern komplett und würdig in der Sammlung stehen habe… in Memoriam seines Bruders Mel Galley.