DEADBURGER FACTORY – La Chiamata
~ 2020 (Snowdonia/Audioglobe) – Stil: Avantgarde/Experimental ~
Die Zeit steht nicht still. Stillstand ist der Tod, auch der Musik. DEADBURGER sind die Personifikation des Progress. Seit über 20 Jahren und auf über sechs Studioalben experimentieren die Herrschaften aus Florenz an ihrer Musik, selbst bei Theateraufträgen. Die Besetzung variiert zwischen einem Duo und einem Oktett und macht keinen Halt, Mikrowellenherde für ihre Soundeskapaden einzusetzen.
Das ursprüngliche Quintett nennt sich seit 2013 DEADBURGER FACTORY und ist ein äußerst experimentierfreudiges und offenes Ensemble. Die Gründungsmitglieder – Vittorio Nistri (Elektronik, Keyboards, Sound Design), Simone Tilli (Gesang), Alessandro Casini (Gitarre) und Carlo Sciannameo (Bass) haben für das neueste Werk die Besetzungsliste auf 20 Musiker erhöht: mit Silvia Bolognesi (Art Ensemble of Chicago), Bruno Dorella (OvO, Ronin, Bachi da Pietra), Enrico Gabrielli (PJ Harvey, Mike Patton, Steve Wynn, Damo Suzuki), Cristiano Calcagnile (Anthony Braxton, Tristan Honsinger, Buch Morris), Edoardo Marraffa (William Parker, Hamid Drake, Han Bennink, Wayne Horvitz, Wadada Leo Smith) und Zeno De Rossi (Anthony Coleman, Marc Ribot, Jamie Saft, Carla Bozulich).
Wie die Musik von ´La Chiamata´, so entfaltet sich auch erst Stück für Stück die Verpackung. Ein düsterer Plastikschuber mit Siebdruck blickt den Betrachter verstört an. Aus diesem bewegt sich ein Gatefold-Cover sowie ein ebenso großes, 68-seitig illustriertes Büchlein. Auf die Dunkelheit folgt das Licht, auch wenn es etwas magenta-rosa strahlt.
´La Chiamata´ ist selbstverständlich ein Konzeptalbum, das einen Druiden, einen Schamanen in einem Einkaufszentrum in den Mittelpunkt rückt. Der geschundene Mann sieht älter aus als es seine 50 Lenze vorgeben. Er trommelt, vollzieht Riten und Beschwörungen. Für seine Umgebung ist er ein Verrückter, den sie mit ihren Smartphones fotografieren und in ihren Social Media-Kanälen teilen. Doch irgendwann schwillt das allgemeine Lachen zu einem Beben an. Die Erde bricht auf. Da keine Lava wie aus einem Vulkan herausströmt, muss sich jeder selber den Ausgang dieses Schauspiels ausmalen. Falls das Vorhaben des Schamanen nicht glückt, packt er seine Sachen und versucht es zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort.
DEADBURGER FACTORY verwenden diese Szenerie als ein Sinnbild für die Gegenwart, für Taubheit und Blindheit, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Soziale Medien, Terrorismus, Sozialismus, Faschismus – alle ringen um die Deutungshoheit. Der Schamane ruft zum Umdenken auf, zur Rückkehr zum Wir-Gefühl, zur Liebe – und trommelt und trommelt, er hat keine Zeit mehr.
They say the working class is dead, we’re all consumers now
They say that we have moved ahead – we’re all just people now
There’s people doing ‘frightfully well’ there’s others on the shelf
But never mind the second kind this is the age of self
(Robert Wyatt, The Age Of Self, 1985)
Alleinsein und Quarantäne fördern und schüren die soziale Isolation. Selbst Musiker isolieren sich heutzutage freiwillig und produzieren im kleinen Kämmerlein eine One-Mann-Show. ´La Chiamata´ ist der Gegenentwurf. Alle Musiker standen sich Auge in Auge im Studio gegenüber, redeten miteinander und aßen miteinander. Eine Gemeinschaft zu spüren anstatt alleine vor die Hunde zu gehen – ´La Chiamata´ ist das Album gegen ´The Age Of Self´.
So treten wir ein, zum Vorspiel zu einer besseren Welt, die erst nach ´La Chiamata´ beginnen kann. Angereichert wird dieses Finalspiel um die Zukunft mit Krautrock, Psychedelia, Elektronik, Noise, Prog Rock, Industrial, RIO und Nu Jazz, lässt Einflüsse von CAN, FAUST, AREA, HENRY COW, FRANK ZAPPA, ONEIDA, SHABAKA HUTCHINGS, PERE UBU, RADIOHEAD, NINE INCH NAILS, ROBERT FRIPP, BRIAN ENO und SCOTT WALKER zu und besitzt durchgehend ein Doppel-Drumming. Zwei Schlagzeuger malträtieren in jedem Song die Felle.
´Onoda Hiroo´, ein japanischer Nachrichtenoffizier, ist als Widmung für den, nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis 1974 auf einer philippinischen Insel ausharrenden Soldaten Alternative-Folk-Punk-Experimental-Music. ´Un Incendio Visto Da Lontano´ lässt die Rhythmen richtig aufwallen – Jazzrock mit heulenden Sirenen und SANTANA-Feeling. Dagegen schreien alle Konsumsklaven den Schamanen ´La Chiamata´ im Einkaufszentrum an, mit Saxofon und Klarinette im Noise-Blues.
Der einzige Song, der nicht aus der Feder von DEADBURGER FACTORY stammt, nennt sich ´Tryptich´ und entspringt dem klassischen Werk ´We Insist! Freedom Now Suite´ von MAX ROACH, das sich elektronisch als auch perkussiv wunderbar einfügt. Der Beschwörungstanz gewinnt im mehrteiligen ´Tamburo Sei Pazzo´ seine Form, mit Marimba, Klarinette, Kontrabass und Saxofon sowie der zum Ausklang beitragenden Akustikgitarre.
Den Höhepunkt der Handlungslinie versprechen ´Manifesto Cannibale´ und ´Blu Quasi Trasparente´, beide jeweils über neun Minuten lang. Die kapitalistische Welt findet ihren Dreh- und Angelpunkt, ihr Zentrum im Einkaufszentrum. Kein Ausweg, keine andere Möglichkeit kommt derzeit in Frage. “Happiness is a warm mall” singt der Chor zum Ende. “Happiness is a warm gun” sangen bereits die BEATLES 1968.
(7,5 Punkte)
https://www.facebook.com/deadburger
https://snowdonia.bandcamp.com/album/la-chiamata-2
Pic: Lorenzo Desiati