REINHARD MEY – Mein achtel Lorbeerblatt
~ 1972 (Intercord) – Stil: Liedermacher ~
Einer der bekanntesten Liedermacher aus deutschen Landen ist unbestritten Reinhard Mey. Als Sohn einer Lehrerin und eines Juristen beginnt er mit zwölf Jahren Klavier zu spielen. Lernt ein Jahr später autodidaktisch die Trompete und ein weiteres Jahr später die Gitarre zu spielen. Bereits vor seinem Abitur musiziert er in den Gruppen ROTTON RADISH SKIFFLE GUYS und LES TROIS AFFAMÉS. Trotz Industriekaufmannslehre veröffentlicht er 1965, mit 23 Jahren, seine erste Single bei “Polydor”. Es folgen EPs mit Chansons und die Kompositionen von eigenen Chansons auf Französisch. 1967 erhält er nach der Teilnahme beim “Chansonfestival” in Knokke eine Plattenvertrag in Frankreich und veröffentlicht dort 1968 als FRÉDÉRIK MEY ´Volume 1´. In Deutschland erscheint 1967 bei “Intercord” seine erste LP ´Ich wollte wie Orpheus singen´. Mit seinem fünften deutschen Studioalbum läuft Reinhard Mey zur Höchstform auf.
´Mein achtel Lorbeerblatt´ begeistert mit einem geschlossenen Band-Sound, denn Reinhard Mey (Gesang, Gitarre) tritt 1972 nicht allein mit seiner Gitarre an, sondern hat einige Musikanten um sich versammelt: Heinz Cramer (Gitarre), Kai Rautenberg (Klavier, Cembalo, Glockenspiel), Hajo Lange (Bass), Heinz Niemeyer (Schlagzeug), Addi Feuerstein (Flöte) und Hubert Schulte (Flöte). Das Werk überzeugt und begeistert vom ersten bis zum letzten Ton, der aus der Schallplattenrille erklingt.
Kompositionen wie ´Musikanten sind in der Stadt´ und ´Die heiße Schlacht am kalten Buffet´ fesseln den Zuhörer von Beginn an mit voller Wucht. Da werden alle Emotionen laut und ironisch hervorgekitzelt. Mit Cembalo und Flöte zieht der Opener im Spielmannslied alle Vorurteile über Musikanten schelmisch durch den Dreck, ein lockerer Folk über mögliche Verwüstungen und beinahe Vergewaltigungen. Allein das Ende setzt der musikalischen Verballhornung ihre Krone auf, will doch der Protagonist am Ende am liebsten mit den Musikanten weiterziehen: “Oh, schütz uns vor Sturmesflut, Feuer und Wind, vor Pest und vor Epidemien, und vor Musikanten, die auf Reisen sind – oder lass mich mit ihnen zieh’n, erbarmen, oder lass mich mit ihnen zieh’n!”
Ebenso überzeichnet stürzt sich eine “ganze Armee” auf das All-you-can-eat-Büffet in unserer Überflussgesellschaft. Mit südländischem Gitarrenklang skizziert Reinhard Mey köstlich ´Die heiße Schlacht am kalten Buffet´, inklusive eines gleichfalls überraschenden Finales: “Das war die Schlacht am kalten Buffet, und von dem vereinnahmten Geld, geh’n zehn Prozent, welch noble Idee, als Spende an ‘Brot für die Welt’, hurra, als Spende an ‘Brot für die Welt’!”
Zwei Liebeslieder hat Reinhard Mey 1972 natürlich auch im Gepäck. Wundervoll sentimental ertönt ´Manchmal wünscht’ ich´ in echter Singer-Songwriter Manier, in der die erste Strophenzeile bereits den Schönklang in Herz und Seele treibt. Allein der Gedanke an die höchst Verehrte und Idealisierte lösen beim Sänger alle Gemüter. Das ´Herbstgewitter über Dächern´ ist hingegen eines der schlichteren, aber dennoch erinnerungswürdigen Kompositionen dieser Liedsammlung.
Weit weniger Glück haben die Protagonisten von ´Alles, was ich habe´ und ´Ich wollte schon immer ein Mannequin sein´ gehabt. Ersterer besitzt als letzten Freund die Küchenschabe, während andere Gefährten „mit dem Glück“ davongelaufen sind. Ein Song mit Pomp Rock-Anleihen, der bildlich in der Spätromantik gut aufgehoben wäre. Selbst dem Maurer und Fliesenleger, der bei der Arbeit vom Laufsteg träumt, ist es in der vergnüglichen Kompositionen mit einer französischen Nuance ´Ich wollte schon immer ein Mannequin sein´ nicht vergönnt, seine Träume auszuleben.
Reinhard Mey bekennt sich dagegen als Individualist, der sich keiner Fahne, keiner Partei und keinem Verein anschließt. Ein edler Mann mit eigenem Verstand und eigenem Gedankenvermögen. ´Bevor ich mit den Wölfen heule´ ist daher der wohl gewählte Opportunismus, sich nicht den Äußerungen oder den Handlungen anderer Zeitgenossen anzuschließen. Denn der Liedermacher Reinhard Mey kann es ohnehin niemandem Recht machen: “Dem Einen sitzt meine Nase zu weit links im Gesicht, zu weit rechts erscheint sie dem Anderen, und das gefällt ihm nicht und flugs ergreift das Wort der Dritte und der bemerkt alsdann: ‘Sie sitzt zu sehr in der Mitte’, und ich sollt’ was ändern daran.” Nahezu jeder hat also – wunderbar dargestellt im Titelsong ´Mein achtel Lorbeerblatt´ – etwas an ihm zu kritisieren. Ein Song, der auch jedem Hörer solch unnötigen Ballast von der Seele nehmen sollte, wenn sich wieder einmal die Erwartungen der Mitmenschen nicht mit dem eigenen Tun und Handeln decken: “Und ich bedenk’, was ein jeder zu sagen hat und schweig’ fein still, und setz’ mich auf mein achtel Lorbeerblatt und mache, was ich will.”
Mit der Parabel über ´Annabelle, ach Annabelle´ hat er im Charleston-Sound der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts den radikalen Bewegungen geradezu ein Bein gestellt. Hämisch umschreibt er seine eigene Verwandlung, die ihm viel Feind und viel Ehr eingebracht hat und aus ihm, einem “korrupten Spießerschwein” mit “rosa Brille” und “Gartenzwergidylle”, durch die Freundschaft zu Annabelle einen “süßen Auswuchs kranker Bourgeoisie” gemacht hat. Dies war einst zu viel für die jungen Empfindungen der Emanzipation und Intellektuellen: “Annabelle, ach Annabelle, Du bist so herrlich unkonventionell, Du bist so herrlich emanzipiert, und hast mich wie ein Meerschweinchen dressiert, Annabelle, ach Annabelle, Du bist so herrlich intellektuell, und zum Zeichen deiner Emanzipation beginnt bei dir der Bartwuchs schon.”
Weitaus tiefer in die menschlichen Abgründe steigt Reinhard Mey mit ´In Tyrannis´ in die Methoden totalitärer Staaten hinab, die uns näher sind als wir denken. Tunlichst düster wie Leonard Cohen umschreibt er in der Ich-Form die Qualen von Gefangenen in absoluter Isolation, beschreibt die Methoden der Folterknechte – in den Siebzigerjahren in Nordirland? in der DDR oder Lateinamerika? – bis der Festgesetzte irgendein Geständnis ablegt.
Eben dieser traurigen Stimmung entsprechend, trägt Reinhard Mey zudem zwei Abschiedslieder vor. ´Schade, dass du gehen musst´ ist der rührselige, ans Herz gehende Abschied von einem guten Freund oder zumindest einem Saufkumpanen, der Pfeife geraucht und Birnenschnaps getrunken hat. Eine Bitte wird gleichwohl noch schnell ausgesprochen: “Sicher geht es dir bei ihm, eher recht als schlecht, sicher sucht er grade wen, der dort mit ihm zecht, hoch auf deiner Wolkenbank bei Tabak und Wein, leg zwischen zwei Flaschen mal ein Wort für uns mit ein, leg zwischen zwei Flaschen mal ein Wort für uns mit ein.”
Den Ausklang des Werkes beschert dagegen die edle Komposition ´Gute Nacht, Freunde´. Unter dem Pseudonym Alfons Yondraschek von Reinhard Mey persönlich für das Duo „Inga und Wolf“ komponiert, trägt es Mey auf ´Mein achtel Lorbeerblatt´ selbst vor. Immer wenn dem sich neigenden Tag ein Lebewohl ausgesprochen wird, darf an diesem oder zu jeder entsprechenden Gelegenheit ´Gute Nacht, Freunde´ gesungen werden: “Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu geh’n, was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette, und ein letztes Glas im Steh’n.”
(Klassiker)
Foto 1: Gatefold der 2017er Vinyl-Ausgabe
Foto 2: Großformatiges Booklet mit allen Liedtexten und Fotos
der Vinyl-Box ´Jahreszeiten 1967-1977´.