KRAFTWERK – Trans Europa Express
~ 1977/2020 (Klingklang/Parlophone) – Stil: Elektro Pop ~
Die 1970 von Ralf Hütter und Florian Schneider gegründeten Elektro-Pioniere KRAFTWERK übersehen gerne ihre ersten drei Werke. Die prägenden KRAFTWERK-Jahre beginnen daher erst 1974 mit ´Autobahn´, als sie die experimentellen Klänge der Urformation hinter sich gelassen hatten. Der große KRAFTWERK-Kanon besteht daher seit über einer Dekade aus den sieben Alben von 1974 bis 2003 zuzüglich einer Mix-Scheibe.
Obwohl „Der Katalog“ bereits 2009 wiederveröffentlicht wurde, ist insbesondere die Nachfrage nach Vinyl weiterhin riesengroß. Daher veröffentlichen KRAFTWERK ihre 2009er Remaster-Versionen „Der Katalog 12345678“ als farbige Heavyweight-LPs. Die deutsche Version wird wie gewohnt durch eine UK-Version internationalisiert.
Für das bahnbrechende Werk ´Autobahn´ erhielten sie goldene Schallplatten. Ein Jahr später erschien ´Radio-Aktivität´ und stand auch in Frankreich auf vorderster Position der Charts. Diverse Male nahmen Hütter und Schneider daraufhin den Trans-Europ-Express, der von 1957 bis 1987 im internationalen Schienenpersonenfernverkehr eingesetzt wurde, um nach Frankreich zu fahren, auch auf eine Einladung hin, die Tour de France zu begleiten. 1977 erschien ´Trans Europa Express´ (engl. ´Trans-Europe Express´) in Anlehnung an diesen Trans-Europ-Express. Der französische Rockkritiker und Produzent Paul Alessandrini hatte ihnen den Titel vorgeschlagen.
2020 erscheint ´Trans Europa Express´ in seiner Vinyl-Wiederveröffentlichung mit dem seit 2009 bekannten schwarz-weiß Cover des TEE. Ursprünglich zeigte das Coverartwork ein gemaltes Bandportrait. Diese Stilistik im Sinne der Fünfzigerjahre-Farbgebung wird heute mit eben diesen Bildern auf der Innenhülle fortgeführt. Ein LP-großes Booklet ist ebenfalls mit Bildern und den Songtexten bestückt.
KRAFTWERK setzten auf dem Musik-Express weiterentwickelte, moderne 32-Schritt-/16-Kanal-Analog-Sequenzer ein, eine Sonderanfertigung der Firma Matten & Wiechers, um ihre Motive in Dauerschleife laufen zu lassen. Eine mechanisch monotone Darstellung war somit gewollt. Diese fußt in der Weise eines endlos fahrenden Zuges auch auf der von Pierre Schaeffer eingeführten Musique Concréte, d. h. technisch festgezurrte Klänge bilden das Fundament.
Europa … Endlos
´Trans Europa Express´ ist für KRAFTWERK selbst und die Musikgeschichte ein stilprägendes Album. Die Krautästhetik hinter sich lassend, die Synthesizer-Pop-Ästhetik der Zukunft noch nicht im Blick, ist ´Trans Europa Express´ der visionäre Ausblick auf ´Die Mensch Maschine´ und die ´Computerwelt´ – auf die gesamte Musik im Digitalzeitalter. Ralf Hütter und Florian Schneider spielten mit ihren damaligen Mitstreitern Wolfgang Flür und Karl Bartos ein zukunftsweisendes Album ein.
Dass hier neben Elektropop auch der Startschuss für Techno und Hip-Hop fiel, muss mit der Erwähnung von AFRIKA BAMBAATAA, der 1982 die Melodie des Titelsongs sampelte und somit die Musik erneut weiteren Generationen ins Gedächtnis schrieb, nur in aller Kürze angerissen werden. Die Zukunft aus den “Kling Klang Studios” in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofs klang konstruktiv, akkurat und unnahbar, und gebar eine spürbare Radikalität in ihrer neu geschaffenen, musikalischen Ausdrucksform. KRAFTWERK waren schließlich die großen Verweigerer, gaben keine Interviews und hatten angeblich weder Telefon noch konnten sie Post empfangen. Gleichwohl war bei KRAFTWERK Multimedia bereits Mode als es den Begriff noch gar nicht gab, da sie mit Wörtern und Tönen, mit Bildern, mit Fotografen und Film arbeiteten. Sie schufen selbstständig ein Gesamtprodukt, das Gesamtpaket KRAFTWERK.
Selbst David Bowie war verrückt nach KRAFTWERK und ´Autobahn´. Und KRAFTWERK hinterließen ihrem Anhänger im Titelsong von ´Trans Europa Express´ eine kleine Widmung mit einem eindeutigen Hinweis zu dessem ´Station To Station´-Werk, weil Bowie sie aufgrund ihrer Verweigerungshaltung nicht als Vorgruppe gewinnen konnte: “From Station to Station back to Dusseldorf City. Meet Iggy Pop and David Bowie.” Dieser bedankte sich auf seinem 1977er Album ´Heroes´ mit dem Song ´V-2 Schneider´.
Von Düsseldorf nach Wien und Paris
Die Europa-Hymne heißt 1977 ´Europa Endlos´ und ist dereinst bereits ratlos ob der Vision des Kontinents: “Wirklichkeit und Postkarten Bilder” aller Träume stimmen nicht überein. Dennoch ein unglaublicher Opener, der tatsächlich endlos seine musikalische Schleife ziehen dürfte. Knappe zehn Minuten gönnen KRAFTWERK dem Hörer. Das achtminütige ´Spiegelsaal´ scheint dagegen anfangs experimenteller aufzutrumpfen, entwickelt sich jedoch zu einer mächtig flirrenden Komposition mit den meisten Wörtern des Albums und einem seiner Höhepunkte. Extravagante Sounds spiegeln sich dabei zwischen dem Betrachter und seinem Spiegelbild hin und her, da jede Veränderung der eigenen Persönlichkeit, nicht nur infolge von Größenwahn im Spiegel sichtbar wird. Der nächste Klassiker ´Schaufensterpuppen´ entsprang zwar selbstredend wegen all der vielen Models und Schaufensterpuppen in ihrer Heimatstadt, der Modestadt Düsseldorf aus den Synthesizern, aber in Wahrheit als Darstellung der eigenen, überstilisierten Bühnenformation. Denn KRAFTWERK wurden aufgrund ihrer Bühnenpräsenz immer wieder als solche tituliert und brechen hier aus dem Glas heraus, gehen auf die Straßen, in die Stadt und in ihre Clubs und fangen an zu tanzen.
Die B-Seite beginnt mit einer dreigeteilten Suite. Der ´Trans Europa Express´ ist zischend, düster während seiner Nachtfahrt und aufplusternd bei seiner Ankunft auf den Bahnhöfen. KRAFTWERK dachten nicht an den Weltraum wie die Elektroniker der Berliner Schule, sondern fahren mit dem TEE nach Paris und haben ihr “Rendezvous auf den Champs-Élysées”. Von dort reisen sie nach Wien und landen am Ende wieder in Düsseldorf. Die Protagonisten der Düsseldorfer Schule waren erdverbundene Elektroniker. Die TEE-Verbindung bot eine bequeme und angenehme Beförderung zwischen den europäischen Großstädten. Im direkten Übergang zu ´Metall auf Metall´ (engl. ´Metal On Metal´) legt dieser knapp zweiminütige Song den Grundstock des Industrial Metal und geht über in den dritten Teil der Suite, den dramatisch-bedrohlichen ´Abzug´, der zur Auffrischung und Fahrtende die englischen Wortfolgen “Trans Europe Express” verkündet. Auch die Ode an den österreichischen Komponisten ´Franz Schubert´ geht anstandslos in ´Endlos Endlos´ über.
´Trans Europa Express´ war und ist die Zukunft der Musik. Endlos.
Florian Schneider – Stimme, Vocoder, Votrax, Synthesizer, Elektronik
Ralf Hütter – Stimme, Synthesizer, Orchestron, Synthanorma Sythesizer, Elektronik
Wolfgang Flür – Elektronisches Schlagzeug
Karl Bartos – Elektronisches Schlagzeug