SUFJAN STEVENS – The Ascension
~ 2020 (Asthmatic Kitty) – Stil: Kosmischer Synthesizer-Pop ~
Es war einmal ein unbekannter Singer-Songwriter aus Michigan, an allerlei Instrumenten talentiert und christlichen Glaubens. Unermüdlich arbeitete er Anfang des Jahrtausends, ungestört von der Öffentlichkeit, an zwei Alben. Das eine sollte 2004 ´Seven Swans´ heißen, das andere ein Jahr früher ´Michigan´. Um das Album ´Michigan´ in die Schlagzeilen zu drücken, wurde ein niemals zu bewältigendes, ein utopisches Vorhaben in die Welt gesetzt: Sufjan Stevens würde fortan alle 50 US-Bundesstaaten mit einem jeweils eigenen Konzeptwerk abhandeln.
Der 28-jährige wurde umgehend zur Sensation des Indie Rock und führte nach Veröffentlichung viele Jahresendlisten an. Die Musikseite “Pitchfork” soll sogar nachträglich die Wertung von “7,5” auf “8,5” bei gleichem Text angehoben haben. Es begann der Betrug an einer ganzen Generation, die bis heute auf weitere 48 Konzeptalben über die einzelnen Staaten der USA wartet, sofern sie den 2002 angestoßenen PR-Gag nicht verstanden hat. Natürlich gab Sufjan Stevens eines Tages zu, dass es sich nur um eine werbeträchtige Aussage gehandelt hatte, doch sein damaliger Manager wollte ebenso den Albumtitel von ´Seven Swans´ in den irgendeines Bundesstaates ändern.
Gleichwohl wurde die Illusion aufrechterhalten, indem 2005 der Staat ´Illinois´ mit einem überbordenden 74-minütigen Album bedacht wurde. “Pitchfork”, mit Hauptsitz in Chicago, Illinois, ließ sich nicht zweimal bitten und gab “9,2” Punkte. Sufjan Stevens und das 50-Staaten-Projekt waren in aller Munde. Sogar Stevens Mitmusiker versuchten völlig irrational, auf ihn Einfluss zu nehmen, welchen Staat er als nächstes in Angriff nehmen sollte und in welcher musikalischen Ausführung. In der Pressemitteilung von ´The Avalanche´ hieß es im Jahre 2006 sogar noch, dass Sufjan Stevens bislang keine Entscheidung getroffen hätte, welchen Staat er als nächstes innerhalb des Projektes berücksichtigt. Hartnäckige Anhänger sind unterdessen zu Gläubigen geworden, die an jeder Ecke ein Zeichen wittern, das Aufschluss geben könnte, wie das 50-Staaten-Projekt weitergeht.
Hätte Sufjan Stevens sein Gottvertrauen in die Fortführung des 50-Staaten-Projektes gelegt, wäre es vielleicht nie so weit mit Amerika gekommen. Hätte er sich vielen weiteren Bundesstaaten angenommen, müsste er jetzt möglicherweise nicht die Missstände in den Vereinigten Staaten anprangern. Hätte er sich bis zu seinem Tode weiterhin unermüdlich einem Bundesstaat gewidmet, bräuchte er jetzt womöglich nicht von der Himmelfahrt des Landes sprechen: ´The Ascension´.
Im Mittelpunkt dieses achten Studioalbums von Sufjan Stevens steht ´America´ , eine zwölfminütige Kritik an der US-amerikanischen Kultur. Selbst wenn er sich in früheren Kompositionen wie ´The Hidden River Of My Life´ oder ´Exploding Whale´ bereits ähnlich ausgedrückte, scheint er hier abermals mit Gott zu reden und ihn geradezu anzuflehen, sich um den Zustand Amerikas zu kümmern. Dennoch soll ´America´ keineswegs als religiöser Song angesehen werden, sondern als politisches Protestlied, als die Identitätskrise eines US-Amerikaners: “Don’t do to me what you did to America, don’t do to me what you do to yourself.”
Während der Eine, Bob Dylan, zuletzt in seinem 17 Minutensong ´Murder Most Foul´ die Popkultur seit den Sechzigerjahren im Zeitraffer betrachtet, genügen dem Anderen, Sufjan Stevens, 12 Minuten, um die sich anbahnende Apokalypse von ´America´ im Hier und Jetzt vorzustellen.
Ohne ein neuer Thom Yorke werden zu wollen und sich der Elektronik vollständig hinzugeben, bemüht Sufjan Stevens weder die 2001er Avantgarde von ´Enjoy Your Rabbit´ oder das pure Songwritertum seiner grandiosen 2015er Lobpreisung auf seine Eltern ´Carrie & Lowell´, sondern strahlt gerade in diesen unruhigen Zeiten eine ambienthafte Gelassenheit aus, die sich in seinem selbst produzierten Werk in Synthesizern, Keyboards und Drum-Maschines ausschöpft: Kosmischer Synthesizer-Pop.
Aus der Einsamkeit heraus und dem schauderhaften Blick auf die Gesellschaft entstand ein erneut sehr persönliches Werk, das seine metaphysische Wirkung nach und nach entfaltet. Es ist spirituell und es ist politisch. Es begleitet den Glauben und die Sehnsucht, die Hoffnungen und Träume, Erinnerungen und Zukunftsaussichten. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem persönlichen Glauben, der voller Zweifel und ungefestigt bleibt. Einzig die Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen scheint die Lösung aller Probleme dieser Welt zu sein, allemal in Aussicht auf ein Leben außerhalb der derzeitigen politischen Spielregeln.
Jetzt ist die Zeit, alte Zöpfe und Denkmuster abzulegen, ´Sugar´ spricht sich für Liebe und Respekt aus, für das Gute und das Reine. Sufjan nimmt in ´Tell Me You Love Me´ den zerplatzten amerikanischen Traum ins Visier, dessen Abrechnung im finalen ´America´ erfolgt. ´Die Happy´ ist hierzu das passende Mantra, denn so unglücklich wie derzeit will Sufjan nicht sterben. Stress sowie Angstzustände, Schlaflosigkeit oder Schlafstörungen bekämpft er sogar mit Lorazepam, ein Benzodiazepin, das unter dem Markennamen ´Ativan´ vertrieben wird. Und er stellt Gott ein Ultimatum, er will bei all dem Wahnsinn auf Erden einen Gottesbeweis für dessen Existenz: ´Make Me An Offer I Cannot Refuse´!
Sufjan Stevens macht ein Versöhnungsangebot: Wer bis heute – nach ´Michigan´ und ´Illinois´ – die Hoffnung auf weitere Staaten-Ausflüge nicht aufgegeben hat, kann sich nunmehr einer Gesellschaftskritik des gesamten US-amerikanischen Staatenbundes hingeben, zwar mit einem Hoffnungsschimmer, dennoch ohne Happy End, ohne Aufnahme in das Paradies.
(Himmlische 8 Punkte)