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Die CORONA-Tagebücher

Ein Corona-Virus bestimmt derzeit das Leben, den Tag jedes Einzelnen sowie die Nachrichten rund um den Globus. In unseren CORONA-Tagebüchern lassen wir Musiker oder Szene-Volk zu Wort kommen. Heute:

 

Oliver Rüsing, Musiker, KARIBOW

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Traum-Haft

Durch die Coronakrise hat sich für mich als Künstler, so wie für die meisten Menschen, eine Menge verändert; andererseits sind aber auch bemerkenswert viele Dinge gleich geblieben. Das mag paradox klingen, betrifft jedoch unterschiedliche Ebenen meines Lebens.

Die materiellen Konsequenzen, die die derzeitige Situation für Kulturschaffende mit sich bringt, sind hinreichend bekannt und die entsprechenden Fragen an die Politik bereits weitgehend gestellt. Dass Liveauftritte zumindest mittelfristig nur mit Einschränkungen möglich sein werden, dass Versandbeschränkungen in einer Vielzahl von Ländern das Onlinegeschäft behindern und dass das  Konsumklima im Keller ist – das sind schon fast Binsenweisheiten. Aus diesem Grund möchte ich die Gelegenheit, die mir Streetclip hier bietet, nutzen, um auf einen Aspekt der aktuellen Lage einzugehen, der mich als Kunstschaffender noch grundlegender betrifft, nämlich die Auswirkungen der Krise auf die Inhalte meiner Arbeit.

Auf den Kopf gestellt hat Corona meine persönliche Arbeitswelt tatsächlich nicht, denn innerhalb des bestehenden Rahmens von Studioproduktionen, die noch immer das Gros des Zeitaufwands für KariBow ausmachen, kann ich als Multi-Instrumentalist genauso weiter arbeiten wie bisher. Ich erfinde Musik, nehme sie auf und kooperiere international via Internet, denn auch Michael Sadler, Sean Timms, Monique van der Kolk oder Hayley Griffiths habe ich für ihre Recordings ja nicht persönlich in Missouri, Adelaide, Barcelona oder Surrey besuchen müssen – auch wenn wir in einigen Fällen dann später an verschiedenen Orten der Welt gemeinsam auf der Bühne standen. Insgesamt also keine Änderungen? Vielleicht wäre es tatsächlich so, wenn ich ein autarkes Konstrukt ohne sinnliche Wahrnehmung und Sozialbezug wäre. Aber das bin ich nicht, und daher fällt mir als Mensch und Künstler mit all seinen Sensibilitäten und Gedanken vor allem eine Veränderung auf: meine innere.

Meine Wahrnehmung diesseits und jenseits meiner Augen hat sich verändert. Ich bemerke, dass die Hässlichkeit des Social Distancing selbst an einem introvertierten Menschen wie mir nicht spurlos vorbeigeht. Aber auch die überwältigende Schönheit des Himmels in ungebrochenem Blau-Blau tut es nicht. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass das derzeitige Social Distancing unnötig sei, aber es erscheint mir seinem Wesen nach völlig unnatürlich. Ich möchte andererseits auch nicht behaupten, dass mir frühere Urlaubsflüge oder die Reise zu unserem Tourabschlusskonzert in Chicago keine Freude gemacht haben, aber der makellose Himmel ohne Kondensstreifen kommt mir in seiner Ungestörtheit jetzt zutiefst natürlich vor – und wertvoll.

In meinen Augen taucht die Verbindung all dieser Beobachtungen und Erfahrungen die Welt derzeit in ein seltsames, surreales Licht. Schon die Einzelphänomene an sich fühlen sich (auch nach einundfünfzig Lebensjahren) äußerst ungewohnt an, treten zudem gleichzeitig auf und kommen darüber hinaus auch noch scheinbar widersprüchlich daher. Tatsächlich jedoch widersprechen sich das Schöne und das Hässliche nicht, sondern sie bauen gemeinsam ein besonderes Spannungsfeld auf. Spannung wiederum birgt und produziert starke Energien, die sich ihrerseits in gestalterische Kraft umsetzen lassen (und das ist ein im wahrsten Sinne des Wortes spannender Effekt).

Ich persönlich erlebe immer wieder, dass meine Ideen und meine künstlerische Ausdruckskraft in erster Linie von der Art der Verarbeitung dessen abhängen, was um mich herum und in mir selbst vorgeht. Und das ist derzeit, wie gerade eben beschrieben, eine ganze Menge.

Jede anspruchsvollere Kunstform stellt Fragen (und gibt manchmal sogar Antworten), aber in der Regel tut sie das von einem relativ sicheren Fundament aus. Selten waren die generellen Verunsicherungen jedoch so stark wie sie es aktuell sind, und das Bewusstsein, dass uns die sogenannte „neue Normalität“ im Rahmen des Schutzmaskenbastelns und -pflegens, der Doppelt- und Dreifachhygiene und des Home-Schoolings wohl noch länger erhalten bleiben wird als uns lieb ist, stellt dem Schöngeist in mir bereits so viele Fragen, dass ich für das freie Frage-Antwort-Spiel von Kunst und Musik, das ich mir so sehr wünsche, immer wieder aktiv Platz schaffen muss.

Aber es regt sich was. Manchmal regt es sich auf, manchmal auch nicht, aber es regt sich. Dieser surrealen „Traum-Haft“ zum Trotz – oder vielleicht gerade deshalb – bäumt es sich langsam aber sicher wieder auf, dieses höchst lebendige Stückchen Ausdruckswille auf der Suche nach seiner ganz eigenen Schönheit und künstlerischen Form. Und es möchte etwas sagen. Nämlich, dass es da ist. Und für mich fühlt sich das äußerst sinnvoll und positiv an.

Daher habe ich persönlich begonnen, die Situation kreativ zu nutzen und in jeder Minute, die ich dafür entbehren kann, neue Musik zu schreiben. Musik mache ich ja deshalb, weil ich von ihr überrascht werden möchte, und das geschieht in der Regel während sie entsteht. Und wenn ich ehrlich bin, dann hat die Corona-Zeit aus dieser Perspektive betrachtet vielleicht sogar etwas Positives, auch wenn es im Gesamtzusammenhang zynisch klingen mag. Auf alle Fälle scheint mir, dass es am Ende, wenn das alles mal vorbei ist, besser sein könnte, nicht ausschließlich vor Trümmern zu stehen, sondern auch vor ein paar frischen kleinen Monumenten, die man während der Krise etwas verzweifelt und möglicherweise auch gegen den eigenen Frust errichtet hat, um Schönes zu erleben. Und wer weiß, wie hoch sie am Ende wachsen, diese kleinen Monumente.

Als Musiker, Maler oder Dichter sind wir nicht nur Geschichtenerzähler sondern auch Geschichtsschreiber. Wir verfassen, für andere wahrnehmbar, unsere individuellen Seiten des gemeinsamen Tagebuchs, das sich im Rückblick vielleicht ja doch nochmal zu lesen lohnt. Und überhaupt – echten Stillstand gibt es schließlich auch in „Ruhezeiten“ nicht, denn Welt bedeutet Wandel und wir sind, ob wir es nun wollen oder nicht, sowieso gezwungen Veränderungen zu akzeptieren und damit umzugehen. Am besten, wir machen etwas daraus. In diesem Sinne gehe ich jetzt wieder an meine Arbeit. Das schafft nämlich hervorragende Voraussetzungen für einen sinnerfüllten Tag, ein Leben nach der Krise und ein komplett neues KariBow Album in der zweiten Jahreshälfte 2020.

 

 

 

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