DAVI RODRIGUEZ DE LIMA – Fantasma
~ 2020 (Sulatron Records) – Stil: Moderner Spacekrautrock / Psychedelicpunk ~
Großstadtgeräuschkulisse, Davi flüstert mir ins Ohr, daß er kein Mensch sei. Merkwürdiges Intro. Kreischende, brodelnde, sägende Gitarren, purzelnde Rhythmen, alles eher pulsierend, aber sehr strukturiert, Monotonie als Stilmittel. Spacekrautrock moderner Prägung also. Gerade die Rhythmen sind komisch, vielleicht gehen sie im Gesamtklangbild manchmal unter, aber sie wirken wie Herzrhythmusstörungen. Sehr strange. Dabei bewegt sich das Stück, um das es hier geht, der Titelsong des Albums, durchaus schnurgerade im 4/4 Takt in die Seele des Hörers hinein, allerdings verschwimmt seine Struktur auf dem Weg dahin.
´Tamed´ hat was von bluesig angehauchtem, psychedelischen Garagerock mit 60er Spirit, sehr viel Hall, etwas enthemmter Gesang, der roh und punkig wirkt, also, eher protopunkig. Sehr krautiges Stück alternativer 70er Musik abseits allen Mainstreamrocks. PINK FLOYD spielen ihren ´Nile´ Song in einer Session mit AMON DÜÜL II auf härtesten Psychedelica nach dem Hören der ersten STOOGES LP? Der verschwommene, verwaschene Klang wird ein wenig deutlicher, was wohl durch den Gewöhnungseffekt kommt. Ein Blick auf die Infos. 2020, stimmt durchaus.
Der Brasilianer Davi Rodriguez de Lima war mal in dort bekannten Punk- und Indiebands aktiv, ist der Liebe wegen nach Deutschland gezogen und hat seine Gefühle der letzten 8 Jahre in eine wilde, eruptive Psychedelicpunkplatte gepackt. Geiler Scheiss, kann ich nur dazu sagen.
Auch das dritte Stück ist wieder so ein klanggewordener Irrsinn, eruptiv, laut, lärmig, das sind die Punk- und Protoindustrial-Einflüsse. Farbenprächtig, betörend, das sind die Psychedelic Elemente. Wäre das Album um 1975 erschienen, was durchaus hätte passiert sein können, dann wären es auf der NURSE WITH WOUND Liste gelandet.
Und ´Off track´ ist ein guter Titel für diesen dritten Song, der sich immer ein kleines bisschen neben der Spur befindet.
Das blubbernde, schleichende, wabernde Stück Psychedelicrock ´Eternal Children´ geht wieder zurück zum Jahrzehntwechsel zu den 70ern. Wo das Kraut den Rock bekam. Wo die liebliche Popseligkeit der 60er Buntmenschen einer düsteren Zukunftsvision wich. Wo aus den freundlichen Hippies die Gammler wurden. So klingt es dann auch. Die ewigen Kinder werden nicht groß, aber sie verlieren das Lachen und ihre Gesichter werden grimmig wie die verhallte Echogitarre und die dünn klingende, aufjaulende Leadgitarre. Hinterhofromantik mit Sperrmüllpanorama statt Blumen im Haar.
´Grey Times´ eröffnet die B Seite. Straighter Bluespunk, Stonerrock, verhallt bis zum vollkommenen Irrsinn, mit spacigen Effekten überlagert, aggressiv und direkt.
´Neblina Rosa´ klingt wie eine alte Kofferradioübertragung einer Bluessession, Gesang, Gitarre, Orgel. Man sitzt am Steuer seines Weltraumtaxis, der Talisman baumelt vom Rückspiegel, der Aschenbecher quillt über und es läuft dieses Lied im Radio. Dann setzt der Rock ein und ein behäbiger Acidbluesrocker zeigt seine gammeligen Zähne. Schöne Leadgitarren, das muss ich zugeben. Dazu eine fantastische, eintönig brummende Orgel. Ja, das macht Freude. Originell ist das nicht, aber umso gefühlsintensiver.
´Banalized´ ist auch wieder mit Hall und anderen Effekten überladen, ansonsten wäre es wohl ein cooler, melancholischer Indiepunksong. So klingt es räudig, extrem lärmig, schrill. Ich mag das gerne hören. Treibende Spacerockpassagen lockern den Song nochmals auf. Der krachige Klangschmutz verstört, während schöne Harmonien den Song am Leben halten. Dann bricht alles ein, bleierner, zähflüssiger Aciddoom gibt sich mitten im Stück die Ehre, pechschwarz mit einigen Glutnestern, verloren, einsam. Und nach einer Sekunde Stille bricht wieder ein kurzes Inferno los, dann ist Schluss.
Noch nicht mit dem Album, da kommt nämlich noch das akustische Bluesstück ´Filho´ und hat wieder diesen Kofferradioklang. Neben dem uralten Kofferradio sitzt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda ein uralter Mensch und sinniert in seinen Tagträumen über die guten alten Zeiten. Tiefe Melancholie spricht aus dem Song, aber auch irgendwie eine machtvolle Versöhnlichkeit mit dem eigenen Lebensweg. Es war schon okay, es war trotz allem irgendwie schön und nun braucht man sich nicht mehr zu beweisen und kann entspannt dem Fall des letzten Vorhangs entgegenschaukeln. Der Countdown läuft schon. Und statt eines Engelschors erwartet einen eine himmlische Bluesband und spielt dreckige, aber erhabene Soli und singt roh, aber herzlich einen Willkommenssong beim Einzug in die Ewigkeit.
Dieses Album besitzt tatsächlich eine sehr starke, bildhafte Ausdruckskraft. Schön gemacht, sehr intim, persönlich und bei allem räudigen Charme tatsächlich sehr cool. Könnte in Undergroundzirkeln zur neuen Kultplatte werden und hätte 1974 genauso einen solchen Status erreicht. Too far out…aber geil.
(9 Punkte)