IGORRR – Spirituality And Distortion
~ 2020 (Metal Blade Records) – Stil: “Non-Mainstream Music” ~
Man bereut nur die Dinge, die man nicht tut – das ist ein ehernes Gesetz im Leben, und somit verfolgt einen manches Unterlassene jahrelang. Dies gilt auch für Konzerte, für die man sich interessiert, sie aber schließlich doch nicht besucht hat, womöglich weil eine Parallelveranstaltung geiler zu sein scheint, der Abend auf dem Sofa verlockender, es das vierte Konzert in einer Woche wäre, oder der Anfahrtsweg zu lang, oder oder oder… kurzum, man hat sich anders entschieden und dann hört man von Kumpels, wie geil der Auftritt doch gewesen sei, sieht die Setlist, eine Video-Aufzeichnung davon, und ärgert sich maßlos. Tja, persönliches Pech! Und dieses Dilemma treibt Musikfans nicht erst seit dem pandemiebedingten Erliegen des Konzertbetriebs um.
Was mich betrifft ist eines der Konzerte, bei dem ich am meisten bedauere, dass ich es nicht besucht habe, das „Metal Oper’art“ am 29.04.2017 in der Opéra National du Rhin in Straßburg. Zum ersten Mal fand ein Metalfestival in einem Opernhaus statt, selbstredend mit entsprechender Besetzung, so unter anderen PSYGNOSIS und EMPYRIUM. Speziell jedoch der Auftritt von IGORRR hatte es mir dabei angetan, und die ARTE-Aufzeichnung verrät auch sofort, warum: dieses Projekt versteht es wie kein anderes, scheinbar unvereinbare Musikstile mit neo-dadaistisch anmutenden Instrumenten wie Staubsauger, Keksdose, Gerüstboden oder selbstgeflexte Steel Tongue Drum aus einer alten Gasflasche zu einem pulsierenden, so grenzenlosen wie präzisen musikalischen Organismus zu verweben, einem Klanggebilde, in dem Barockoper und romantische Klassik, Progressive, Death und Black Metal, Balkan- und französische Folklore, Trip Hop sowie diverses Elektronisches aus der erweiterten Breakcore-Ecke zusammenkommen, um eine wilde, exzessive Party zu feiern, ganz nach dem Geschmack von Mastermind Gautier Serre. Man stelle sich vor, wie sich in einem sommerlichen französischen Innenstadt-Hinterhof die Kakophonie von Acarde-Videospielsounds mit diversen Radiosendern vermischt, und gleichzeitig das Balkanorchester, das nebenan übt, nicht den Opernsopran zu übertönen versucht, sondern sich all das wundersam miteinander verbindet. So ging das drei Alben lang.
Was sich jedoch bereits beim Vorgänger ´Savage Sinusoid´ abzeichnete, ist der fortschreitende Rückzug elektronischer Spielereien wie Samples und Breaks in den Hintergrund der Songs, die nun deutlich auf die zentralen Rock-Instrumente fokussiert, deutlich weniger improvisiert und damit fast schon einschmeichelnd strukturiert daherkommen: Auf ´Spirituality And Distortion´ geht Serre den 2017 eingeschlagenen Weg konsequent weiter, und öffnet damit gleichzeitig die Tür sehr weit auch für den eher konventionellen Hörgeschmack. Aber keine Sorge, nur weil sich die neue IGORRR problemlos vollständig hören lässt, und sogar danach schreit, mehrere Male hintereinander goutiert zu werden, ist das bewährte französische Kollektiv nicht in den Mainstream abgedriftet, wie sich schon Serres oben zitierter Stileinordnung entnehmen lässt. Wo das vielköpfige Monster bisher vor lauter irrer Ideen, ständiger abrupter instrumentaler und vor allem rhythmischer Wechsel bei allem Tanzen und Breaken schier durchdrehte, genießt es diesmal die Fülle der kompositorischen Einfälle bis zur Neige, und statt zu hyperventilieren atmet es. Und zwar tief, und genüsslich und ruhig – okay, was man im IGORRR-Universum so unter Ruhe versteht. Das ist wohl der herausstechendste Unterschied zu den Vorgängern: den einzelnen Motiven und Protagonisten wird viel Platz und vor allem Zeit zur Entfaltung gelassen, ohne dabei das IGORRR-typische Aufbrechen und Verwandeln zu vernachlässigen, ihm wird jedoch genauso viel Bedeutung zugemessen wie der Repetition und Weiterentwicklung der Melodie- und Rifffragmente. Und dadurch entsteht eine vielschichtige, changierende und niemals vollständig erfassbare Klangfülle, die den oben angedeuteten Suchtfaktor auslöst.
Es sind die bewährten Mitstreiter aus diversen anderen Projekten wie ÖXXÖ XÖÖX oder CORPO-MENTE, sämtlich Spezialisten ihres Fachs, aber vor allem alle miteinander Metalheads, die Serre bei IGORRR auch live unterstützen: am Gesang die Sopranistin Laure Le Prunenec sowie Laurent Lunoir, an Drums und Pecussions Sylvain Bouvier, hinzu kommen diesmal Oud- und Kanoun-Spieler sowie Profis an Klavier, Cembalo, Geige und Bass. Einen absoluten Traum konnte sich Serre jedoch beim Song ´Parpaing´ erfüllen, zu dem es auch ein sehr interessantes Video gibt: „Wir hatten die Ehre, meinen persönlichen musikalischen Helden auf diesem Album zu begrüßen: George ‘Corpsegrinder’ Fisher von Cannibal Corpse. Er schreit auf dem Track ‘Parpaing’, und seine legendäre Stimme bringt die Heftigkeit, die dieser Track verdient hat. George ist wie der Endgegner des Death Metal. Wie bei einem Videospiel der Endgegner der Stärkste ist, ist George ist der Beste Death Metal Sänger. Aufgrund der extremen Härte und Gewalt seiner Stimme fand ich es sehr stimmig, ihn mit einer billigen 8bit-Musik zu kontrastieren, die wahrscheinlich softeste Musik der Welt. Der Kontrast ist für meine Ohren wunderschön.”.
Damit gewährt Gautier Serre Einblick in den Antrieb, der ihn zu ´Spirituality And Distortion´ gebracht hat, es geht ihm um die Kontraste, die Vielfarbigkeit des Lebens und der ganz unterschiedlichen Emotionen, die jeder von uns tagtäglich durchlebt. Es gibt auch hier wieder die total abgedrehten Technikspielereien zu erleben wie ´Very Noise´ oder ´Paranoid Bulldozer Italiano´, aber eben auch vielfarbig-komplexe, vertrackte und gleichzeitig harmonische, atmosphärische Kompositionen (Serre ist Synaesthetiker, und sieht die Stücke als Gemälde vor seinem inneren Auge) wie ´Hollow Tree´, das sphärische ´Himalaya Massive Ritual´ mit der selbstgebauten Tongue Drum, oder mein Favorit ´Polyphonic Rust´, bei dem Laure Le Prunenec wieder einmal an Lisa Gerrard erinnert. Und versprochen: hier ähnelt kein Song dem nächsten!
Alles ist weird enough wie bei den stilistisch zwar weit entfernten, doch ähnlich scheuklappenfrei agierenden Metalrebellen Mike Patton oder Devin Townsend, aber doch gleichzeitig so stimmig und logisch ineinandergreifend wie bislang so von IGORRR noch nicht gehört; mit diesem fast vollkommenen Album gelingt ein Riesenschritt ganz nach vorne. Ausgefeilt und trotzdem gefällig, höchst anspruchsvoll und gleichzeitig mit Hook-bewehrten Ohrwürmern nur so um sich werfend, hat der Soundtüftler eine neue Evolutionsstufe erreicht, auf der es gelingt, die vielerlei glitzernden Mosaiksteinchen und multikulturellen Trademark-Elemente seines Klangkosmos zu einem Kaleidoskop zu bündeln, das einen ganz neuen Blick auf die Zukunft des Metalgenres erlaubt: bunt ist, was gefällt!
Diese Ausnahmeplatte sollte, nicht nur wenn es nach Serre selbst geht, in toto genossen werden, um ihre volle Wirkung zu entfalten; sie ist sein „Soundtrack für die Apokalyse“, und damit passgenau für unsere Zeit. Riesengroßes Feinschmecker-Avant Garde-Kino!
(9,5 Punkte)