CASPAR BRÖTZMANN MASSAKER – Home
~ 1995 / 2020 (Southern Lord) – Stil: Avant-Garde/Experimental/Noise ~
Die Musik von CASPAR BRÖTZMANN ist größtenteils furchterregend und verstörend – passend für einen Gitarristen, der seine frühe und wichtigste Band „Massaker“ genannt hat. Mitte der 80iger startete Brötzmann, besonders inspiriert vom Genuss seiner West-Berliner Jugend, das Power Trio als radikalisierte Rockplattform für seine unerschütterlich konfrontative Herangehensweise an die E-Gitarre.
Aber trotz all der gruseligen Schreie, Referenzen zu Selbstmordkulten und anderweitigen böswilligen Tönen ist Brötzmanns Musik weit mehr als nur ein bloßes „Massaker“, denn es besitzt den Hang zur Transzendenz und kämpft sich leidenschaftlich voran, auf der Suche nach dem Licht in der Dunkelheit. Brötzmann und seine Rhythmusgruppe verwenden dabei die Ersatzteile des Rock’n’Roll wie Waffen der kollektiven Befreiung – und schlagen gegen die Qualen an, die sie verursacht haben.
Nachdem das Trio mit dem Vorgänger ´Koksofen´ vor allem in den USA große Aufmerksamkeit erlangt hatte, half auf ´Home´ erstmals EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Mitglied F. M. Einheit bei der Produktion mit und zwar um sicherzustellen, dass die Kombination aus abstrakter Kunst und knirschender Elektrizität noch viel deutlicher zum Tragen kommt. Der Sound hatte sich dadurch zwar nicht grundlegend verändert und das Tempo ist die meiste Zeit über immer noch niedrig und schwerfällig. Aber die gesamte Tonhöhe des Albums ist deutlich stärker in Richtung Bass verschoben und Brötzmanns Gitarrenarbeit fühlt sich an, wie wenn Schlamm durch mehrere Schichten fließt.
Brötzmann plündert auf ´Home´ immer noch jeden Zentimeter seines Gitarrenhalses auf der Suche nach der perfekten, schreienden Note. Die Songs wirken wesentlich zentrierter und weitläufiger, werden erst behutsam aufgebaut und anschließend in ihre Stücke zerschlagen.
Der Song ´Tempelhof´ beispielsweise ist die perfekte Visitenkarte für die Fähigkeiten des Berliners. Nach einem etwas weicheren und dennoch bedrohlichen Start legt Brötzmann mit einer sich aufladenden und tödlichen Gitarrenlinie los. Atonale Schrägstriche rollen sich zu einem Himmelfahrts-Riff zusammen und kämpfen sich durch einen Nebel aus scharfem Rauch. Der halb zitternde, halb tobende Gesang des Meisters trägt zusätzlich zum nervenden Gefühl des Stückes bei, das auf halbem Weg einen Hauch leichter wird, bevor es schließlich explodiert. Was auf den ersten Eindruck wie existenzielle Qualen erscheint, gelangt zu einem Moment des reinen Abhebens.
Brötzmann hatte seit Beginn seiner Karriere vor allem mit einem Kategorisierungsproblem zu kämpfen. Ob nun ein Punk, ein Liberaler, ein Provokateur oder einfach nur ein Heavy-Metal-Musiker – er war Teil einer jeden Szene. Das Lebenselixier seines Sounds besteht jedoch vor allem darin, wie sehr Brötzmann und seine Band einer einfachen Kodifizierung widerstehen. Sie kratzen und schaben an der Kluft zwischen Rock und Jazz, Funk und Industrial, Songs und Chaos, Dunkel und Hell – und arbeiteten dabei stets mit dem Gedanken, Binärwerte lauthals krachend zu durchbrechen. Selbst nach mehr als zwei Jahrzehnten des weiteren Verschiebens von Genregrenzen, fühlt sich ´Home´ immer noch wie ein gewaltiges Erdbeben an.
(8,5 Punkte)
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(VÖ 17.04.2020)