LINDEMANN – F & M
~ 2019 (Vertigo Berlin) – Stil: Modern Metal ~
Der gute Till, die Zweite im Jahr 2019. Zusammen mit seinem gesucht und gefundenen Buddy des aussergewöhnlichen Geschmacks Peter Tägtgren. Genau wie RAMMSTEIN hat er sehr wohl was hier zu suchen, denn er ist extrem. Wie Metal halt.
Zunächst fragt man sich, wieso im gleichen Jahr ein durch einen unvergleichlichen Sänger geprägtes, stilistisch ähnlich anmutendes Werk veröffentlicht wird. Doch nach mehrfacher Hingabe muss man letztendlich zum Schluss kommen, dass zwar der RAMMSTEIN’sche Humor enthalten ist, jedoch weniger Brutalität in mehr Epik und (noch mehr) Abwechslung verpackt wird. Manchmal sollte man beim ersten Hören – analog zur Musik – seine Gedanken zu Papier bringen. Das schließt natürlich keine weiteren, endlosen Hördurchgänge aus, lieber Leser. Doch in diesem Falle wandert die Platte oft auf den Teller, was die reichlich späte Besprechung erklärt, auch wenn einiges unerklärlich bleibt.
Wir könnten so viel machen – wir wollen nichts versäumen
Wollen nichts verpassen – doch du bleibst einfach liegen
Auf dem Bett, dem nassen
Steh auf! Steh wieder auf!
Zunächst irritiert mich beim durchaus gelungenen Durchhaltesong ´Steh auf´ die platte Symphonik, die man von viel zu vielen Gothic-Bands um die Ohren geschmissen bekommt. Doch abwarten, hier herrscht Kunst, wie das zweite, typisch Tägtgren-PAIN-like ´Ich weiß es nicht´ beweist, welches sich mit neuerer RAMM-Kunst vereinigt. Der Zwischenpart zeigt deutlich, dass auch ohne Flake an den Keys akzentuierte Slowdowns möglich sind. Und wieder fetzen die Riffs und die Epik der Gesangesmelodien.
Ich liebe dich, ich brauche dich
Gib mir mehr, komm fütter mich
Ich liebe dich, ich brauch dich sehr
Komm fütter mich, gib mir mehr
Nur das Zurücksetzen der Härte zugunsten leichter Elektronik unterscheidet den ´Allesfresser´ vom Oevre der Stammband, doch Tägtgren hat eine andere Herangehensweise an Samples, an die Soundwand im Hintergrund, sodass spätestens beim ´Blut´ klar wird, dass sich hier die kranken Old Shatterhand und Winnetou verblutsbrüdert haben. Ich vermisse noch ein wenig die englischsprachigen Versuche des ersten Albums, welches seinen perversen Reiz hatte, doch Tills Wohlfühlsprache bleibt die der Mutter und somit entwickelt sich diese Nummer zum absoluten Epikhit!
Und spricht die Klinge in der Not – wenn das Blut im Leib gerinnt
Wenn der farbenlose Tod mich in die kalten Arme nimmt
Blut – Blut – Blut
Lass es rein, lass es raus
Der garstige Singer-Songwriter läuft auf zu neuen Höhepunkten, wenn er NEIL YOUNG- oder NEW MODEL ARMY-Stimmungen textlich ad Absurdum führt und an MICHELE BARESIs ´In der Stunde Ohne Schatten´ erinnernden German Country darbietet. Nein, einen ´Knebel´ kann man Herrn Lindemann wohl nicht mehr in den Mund einpflanzen. Wow, was für ein brachialer Ausbruch!
Leben ist einfach, einfach so schwer
Es wäre so einfach, wenn es einfacher wär
Ist alles Bestimmung, hat alles seinen Grund
Und du bist ganz still, hast einen Knebel in dem Mund
Die Hymnenhaftigkeit des Albums setzt sich in Form verschiedenster Ideen weiter fort für ´Frau & Mann´, wie auch der dieses Jahr gezeigte Humor bei der Stammband. Der Fan mag sich fragen: „Braucht Till RAMMSTEIN noch?“ Sie ihn schon, wie dieses Album eindrücklich zeigt. Teilweise erklärt nur die Produktion, wo Tätgren aufhört und RAMMSTEIN anfängt. So, nun ist unser weit gereister Seemann wieder unterwegs auf der ´Ach so gern´-en Jagd nach dem weiblichen Geschlecht in einem typisch-textlichen Chanson, dem ein Tango zugrunde liegt.
Denn ach so gern hab ich die Frauen geküsst und das nicht immer auf den Mund
Ich wollte einfach wissen wie es ist und küsste mir die Lippen wund
Ich nahm sie einfach in die Arme und manche hauchten leise: Nein
Doch ich kannte kein Erbarmen – soll damit sie glücklich sein
Auch die Western-Fans und ihre lieben Kinderlein bekommen ihren High Noon, wenn es in Tills speziellem, gigantisch instrumentierten Schlaflied unmöglicherweise heißt: ´Schlaf ein´. Peter gibt hinterher dann mal voll ´Gummi´ während Till uns eine Stylingberatung für sein liebstes Hobby erteilt, bevor wir mit flotter Elektronik auf ´Platz Eins´ preschen und sich ein bisschen Jean-Michel Jarre-Blade Runner-Feeling verbreitet.
Jede Note sing ich richtig – der Text dabei ist gar nicht wichtig
Meine Lieder sind die Besten und Autogramme für die Gäste
Der liebe Gott hat auch schon eins und alle Engel, alle meins
Nach dem damals weltgewandt-gescheiterten Versuch, RAMMSTEIN amerikanisch darzubieten, wagte sich Till Lindemann doch beim ersten Album erneut an die fremde Zunge, was für mich definitiv einen großen Reiz als auch ein Unterscheidungsmerkmal zu seiner Erfolgsband darstellte. Nun sitze ich hier, bin absolut begeistert von diesem Werk, doch denke ich bis auf wenige Ausnahmen: Gab es dieses Jahr nun zwei ähnliche Alben, weil RAMMSTEIN kein Doppelalbum machen wollten und die Ideen ihres Sängers fallen ließen, weil sie seit 2015 wissen, dass er einen prima Spielkameraden im guten Peter gefunden hat und sich beide auf ihrer Spielwiese ständig neu erfinden. Diese Vermutungen bleiben wohl unbeantwortet, doch das Alleinstellungsmerkmal LINDEMANNs bleibt: Man liebt ihn oder man hasst ihn. Liebe ist für alle da, besonders hier für mich, wenn mich der epische Rausschmeisser wortlos und glücklich zurücklässt:
Wer weiß das schon? – Wer weiß das schon?
Mein Herz auf und davon – Wer weiß das schon?
Wer weiß das schon? – Mein Herz auf und davon
Ich liebe das Leben – das Leben liebt mich nicht
Es tritt mich mit Füßen und schlägt mir ins Gesicht
Ich liebe die Sonne – die Sonne liebt mich nicht
Die Zukunft so dunkel – alle Tage ohne Licht
Die Vinylversion bietet darüberhinaus noch den jeden Schüler applaudieren lassenden Abgesang auf die ´Mathematik´ und die PAIN-Version der Liebeserklärung ´Ach so gern´.
Ein unglaubliches Werk der Liedkunst, welches sich auf einem nicht minder nahezu klassischen Niveau bewegt, wie das aktuelle Meisterwerk seiner Hauptbrötchengeber. Augenhöhe RAMMSTEIN, nicht mehr, nicht weniger.