ANGEL OLSEN – All Mirrors
~ 2019 (Jagjaguwar/Cargo) – Stil: Artpop ~
Seit Jahr und Tag werden die Alben der 32-jährigen Angel Olsen jedes Mal aufs Neue als ihr allerbestes Werk herausgehoben, obwohl sie sich bislang nicht für eine ihrer vorausgegangenen Entwicklungsstufen – Indie Rock, Folk oder Pop – entscheiden konnte. Öffentlichkeitswirksame Auftritte bei Kollegen wie Bonnie “Prince” Billy oder Mark Ronson standen einem Popularitätsanstieg natürlich nicht im Wege.
Auf ihrem vierten Werk gibt sich Angel Olsen musikalisch als die Unnahbare, obwohl sie in den gefühlvollen und poetischen Texten ihr Innerstes preisgibt. Selbst die Gestaltung von ´All Mirrors´ verliert sich in den Gegensätzen der Farben Schwarz und Weiß, ein dicker Tupfen Silber breitet sich im Inneren als Hoffnungsschimmer aus.
Schwarz oder weiß: Angel Olsen hat sich auf ´All Mirrors´ neu erschaffen. Sie nimmt die Vergangenheit und trägt sie in die Zukunft. Sie zeigt gleichzeitig ihre kalte Schulter und ihre romantische Ader. Sie wählt Expressionismus und Naturalismus. Sie wählt die klassische Singer-Songwriter-Schule und steckt sie in eine orchestrale Verpackung. Denn die Kompositionen standen anfangs in ihrer puren und natürlichen Schönheit, wurden im Laufe des Aufnahmeprozesses um Synthesizer und ein großes orchestrales Sammelsurium aus Violinen und Celli erweitert, für dessen Umsetzung sie mit Ben Babbitt und Jherek Bischoff kollaborierte.
Angel Olsen besteigt kurzerhand den Turm der Kakophonie, eine Wall of Sound erschlägt den Zuhörer, aus einem sachten und schüchtern gesungenen Beginn in ´Lark´ heraus. Diesem Orkan kann nur bei voller Lautstärke oder in einer Konzerthalle Paroli geboten werden. Folglich lässt sich das Album am sinnvollsten unter den Kopfhörern genießen oder es findet sich eine große Anzahl an Boxen in einer mächtigen Halle ein und der Lautstärkeregler wird nach oben geschoben. Dann erschallt gern ein geradezu Achtzigerjahre Beat, indessen die restliche Instrumentierung grenzenlos und zeitlos erscheint.
Es benötig Raum und Zeit, um in den Kosmos von Angel Olsen zu gelangen, obgleich sie nicht derart kunstvoll wie Julia Holter agiert. ´What It Is´ eröffnet Verwandtschaften zu ARCADE FIRE, ´Impasse´ zu Joanna Newsom, ´Spring´ zu den BEATLES oder ´Chance´ zu Rufus Wainwright, aber die erzeugte Dunkelheit ist ganz und gar Angel Olsen. In den finalen Kompositionen verliert sie sich derart in den Sixties, dass der Hörer in seinem Kopf Frank Sinatra am Abgrund stehend, an dem sich Sinatra zu jener Zeit selbst tatsächlich befand, mit ´I Do It My Way´ nachempfindet.
Die menschliche Krise wird Angel Olsen mit ´All Mirrors´ überwunden haben, wenn sie ihr Selbstmitleid zur Seite geschoben und ihr eigenes Ich aufgespürt und angenommen hat. Künstlerisch gesehen hat sie ihr Meisterwerk erschaffen. Angel Olsen tanzt in schwindelerregender Höhe auf dem Seil der Emotionen, derweil die Streichinstrumente um sie herum den Orkan heraufbeschwören.
(9 Punkte)
https://www.facebook.com/angelolsenmusic/
https://angelolsen.bandcamp.com/album/all-mirrors
PS: Das Werk ist in der Doppel-Vinyl-Edition ein wahres Schmuckstück, inklusive Poster und LP-großem Booklet. Das Gatefold-Vinyl besitzt eine dermaßen dicke Papphülle, wie sie nur alle Jubeljahre anzutreffen ist.