PlattenkritikenPressfrisch

ALCEST – Spiritual Instinct

~ 2019 (Nuclear Blast) – Stil: (more than) Blackgaze ~


Auch wenn jeder zu diesem Anlass einen neuen Song erwartet hatte, war es als Vorbereitung auf ´Spiritual Instinct´ doch genau richtig, ALCEST nach ein paar Jahren erst einmal wieder live und ausschließlich mit altem, ans Herz gewachsenen Material zu erleben. Beim diesjährigen Prophecy Fest in der Balver Höhle wurde nicht nur mir erneut klar, was die einzigartige Magie dieser herausragenden Band ausmacht: die symbiotische Verbindung der so starken Kontraste zwischen treibendem, extrem vielseitigem, meist geblastetem Drumming und stark verzerrten Riffs, ätherischem, oft choralem Klargesang und nervenzerreißendem Kreischen, schwebender Atmosphäre und technischen Extravaganzen, Dissonanz wie Harmonie, dargeboten mit einer geradezu transzendenten Schönheit, die zum Hinwegträumen genauso einlädt wie zum Herz und Haare schwingen lassen…kurz gesagt: die Essenz so gefühlvollen wie ursprünglichen und spirituellen Post-Metals.

Mit ihrer sechsten Langspielplatte, der ersten nach dem Weggang von ihrer langjährigen Labelheimat “Prophecy Productions”, kehrt das Duo zurück zu seinen Wurzeln, und ist damit musikalisch, inhaltlich wie soundtechnisch seinen klassischen, ersten drei LPs näher als zuvor. Der pure Shoegaze-Ausflug ´Shelter´ wurde bereits mit dem Nachfolger ´Kodama´ zurückgenommen, und wie schon bei dessen Hit ´Oiseaux De Proie´ kommen auch auf ´Spiritual Instinct´ Neiges scharfes Fauchen und Winterhalters kräftig galoppierendes wie akzentuiertes Schlagzeugspiel wieder zum Einsatz. Vor allem ist die genauso eingängige wie anspruchsvolle Platte erstaunlich hart bei gleichzeitig hochgefahrenem Progressiv-Anteil. Ein Wunderwerk? Auf jeden Fall eine weit mehr als positive Überraschung!

 

 

Schon der erste Track fährt sämtliche ALCEST-Trademarks auf, in den ´Les Jardins De Minuit´ erblühen gleichzeitig ´Les Iris´,  wie wir auch ´Percées De Lumière´ wahrnehmen können. ´Protection´ wiegt uns zuerst in einem langsamen Walzertakt, um plötzlich in vertrackt-progressive Rhythmik umzuschlagen, die von Bass und Gitarre mitgetragen wird, und löst dies schließlich in einem hymnenhaften Gesangspart wieder auf – einfach nur faszinierend und fesselnd. ´Sapphire´ beginnt mit einem typischen, stark verhallten und abgewandelt wiederholten Gitarrenmotiv und hätte auch gut und gerne seinen Platz auf der „japanischen“ ´Kodama´ gefunden. Das längste und zentrale Stück ´L‘Île Des Morts´ – wieder einmal das “Toteninsel”-Motiv in Musik verarbeitet – dagegen beginnt elektronisch, wird dann stark bass- und drumlastig, ja fast jazzig, nur um sich in einem so verträumten wie kraftvollen Gesangsmotiv adlergleich und mächtig in die Höhe aufzuschwingen. Dieser Song lebt vom Spiel mit Dynamik- und Tempowechseln, und macht damit wohl am deutlichsten, wo ALCEST im neunzehnten Jahr ihres Bestehens stehen: als eine der Pionierbands des Blackgaze haben sie diesen Stil bis zur Perfektion verfeinert, indem sie stets offen für Einflüsse auch weit jenseits des Post-Rock und Black Metal waren. Eine dieser Vielschichtigkeit genüge leistende und so filigrane wie drückende Produktion (Drudenhaus Studio – Benoît Roux) fügt das ihrige dazu.

Mit ´Le Miroir´ gelangen wir schließlich zum thematischen Kern dieses für ALCEST-Verhältnisse sehr düsteren und metallischen, rifflastigen Albums. Neige verarbeitet hier auf kathartische Weise seine inneren Kämpfe, Zweifel und Existenzängste, die ihn von seiner Spiritualität, die seine Musik so einzigartig und intensiv machen, abgetrennt hatten, und die er erst durch die Arbeit an ´Spiritual Instinct´ wiedergewann. Diese Dualität spiegelt sich im Plattentitel, aber auch im Artwork, das abermals vom Pariser Duo Førtifem stammt, wider: die Sphinx mit ihrem menschlichen Kopf und Tierleib ist ein Symbol für die zwiespältigen Anteile in jedem von uns, unsere ursprüngliche Natur im Gegensatz zum erstrebten Wachstum als bewußtseinserfüllter Mensch. Neige sieht aber auch andere Parallelen, denn er wie auch ALCEST stehen zwischen allen Szene-Stühlen: „In the metal scene ALCEST is a weird band, in the indie/post-rock scene ALCEST is a weird band – we never quite fit in. This is how I feel in life, always an outsider; It’s not a problem, it’s just the way it is.”. Vielleicht zieht auch gerade diese Zerrissenheit in ALCEST-Songs, die immer wieder in Harmonie aufgelöst wird, entsprechende Hörer und Fans an?

Ob diese neuen Lieder an die ganz großen ALCEST-Werke wie ´Là Où Naissent Les Couleurs Nouvelles´, ´Percées De Lumière´ oder ´Écailles…´ herankommen, wird die Zeit zeigen. Die Chancen dafür sind nicht gering. ´Spiritual Instinct´ ist eine große, sehr reife, vor allem aber eine wahrhaft erstaunliche Platte geworden – so wohlig bekannt sie einem vorkommt, ist sie doch genauso voller neuer Ideen. Ich wünsche ihr viele begeisterte Hörer, und sehe sie in den entsprechenden Jahresendlisten ganz weit vorne!

(9 Punkte)

 

http://www.alcest-music.com

http://www.facebook.com/alcest.official


(VÖ: 25.10.2019)

Ähnliche Artikel

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"