TOOL – Fear Inoculum
~ 2019 (Sony Music) – Stil: Prog Metal ~
Zeit vergeht. Musik bleibt. Töne müssen jedoch erst konserviert werden, um als Musik goutiert zu werden. Dreizehn Jahre mussten derweil Hardliner auf ein neues Werk von TOOL warten. Dreizehn Jahre bedurfte es, um neue Songs fertigzustellen. Dabei waren diese seit acht Jahren im Groben und Ganzen längst vollendet. Allein die schiere Angst des Versagens, keine befriedigende Anerkennung einzuheimsen, quälte TOOL durch die vergangenen Jahre hindurch. Diese Verzweiflung führte zur völligen Lähmung des Quartetts. Sie kommt jedoch nicht von ungefähr, sind die neuen Kompositionen allesamt allein für echte Lover bestimmt. Hipster und Fashion Monger mögen zwar gleichfalls zuschlagen, wenn sie sich die überteuerte und allein erhältliche Special Edition mit großem, kunstvoll gestaltetem Booklet, einem Silberling sowie Mini-HD Screen, der durch ein mitgeliefertes USB-Kabel wieder aufladbar ist, in ihr Kirschholzregel legen. Denn diese Musik erschien ohne großes Brimborium. Den Hype beschwören Menschen herauf, die überhaupt nicht von ihr tangiert sind. Die schwebenden und ellenlangen Kompositionen sind streng genommen für echte Connaisseurs konzipiert und erdacht, vielleicht auch für die nächsten dreizehn Jahre – oder für die Ewigkeit.
Danny Carey spielt 2019 die attraktivsten Percussions, das aufregendste Schlagzeug des uns bekannten Universums, Justin Chancellor die abgefahrensten Bass-Läufe der gesamten Saison. Adam Jones erkämpft sich jedes kleinste Fleckchen in den exorbitanten Soundgebilden und sendet blaue und schwarze anstatt bunter Regenbogenfarben aus. Maynard James Keenan hält mit seinem sensiblen Gesang das gesamte TOOL´sche Universum zusammen. Und warum? Weil sie es können.
Meisterlich präsentieren sie eine auf analogen Bändern aufgenommene Mega-Produktion: 79 Minuten lang auf dem Silberling zu hören, oder 86 Minuten digital, inklusive drei kleinerer Instrumentalstücke. Kammer-Orchester trifft im Opener ´Fear Inoculum´ (> Exhale, Expel) über eine Länge von zehn Minuten in einer nerven-zerreißend sägenden Atmosphäre auf das erwachende Monster TOOL. Maynard singt nicht nur leidenschaftlich, sondern spricht gar eindringliche Formeln. Ein wirbelndes Schlagzeug misst sich anschließend mit dem Gitarrero bis das Feuer in ´Pneuma´ (> One Breath, One Word, One Spark) in alle Richtungen ausbricht. Langsam quälen sich über zwölf Minuten alle Instrumente, abermals unter mächtigem Percussion-Einsatz, in die Höhe. Maynard jauchzt flüchtig wie Mario le Fate. Sodann geigt die Gitarre in ´Invincible´ (> Warrior) auf ihrem Motiv, während das Schlagzeug hohlraumerfassend erneut zwölf Minuten lang einklopft und sich der Bass mitsamt dem Rest ins Böse des Universums steigert. Quietschende Soli-Einlagen führen zum Vocoder-Gebrauch: TOOL 2030 treiben um dasselbe Motiv im Orbit. Schmerzhaft geht es wieder ins Jahr 2011 zurück.
Indessen schwirren Laute durchs All, schlagen die Wellen an Felsen, auf Erden. TOOL nutzen für die dreizehn Minuten von ´Descending´ (> Call Us To Arms And Order) etwas Psychedelic und lassen den Dark-New-Age Künstler LUSTMORD an seinen Tasten spielen, temporär sogar fast im Weltall mit KRAFTWERK schwebend. Stoisch und beschwörend gestalten sich die Umkreisungen von ´Culling Voices´ (> Psychopathy), ehe im letzten Drittel der zehn Minuten die Boliden Wucht ins Spiel bringen. ´Chocolate Chip Trip´ fällt ebenfalls aus dem Rahmen, wie es die anderen drei Instrumental-Stücke – ´Litanie Contre La Peur´, ´Legion Inoculant´ und ´Mockingbeat´ – getan hätten, wären sie auf dem Silberling und nicht nur digital enthalten gewesen. Einmal von dem Schoko-Narkotikum genascht, fangen die Pilze an zu hüpfen und treiben das Schlagzeug in den Rausch. ´Litanie Contre La Peur´ ist eine flüchtige, wogende Synthesizer-Darbietung, ´Legion Inoculant´ ein Ankommen unbekannter Spezies und wildes Ausschwirren dieser sowie das finale ´Mockingbeat´ ein Vogelgeschrei zum Holzbeat. Als letzter all der vielen Höhepunkte ist ´7empest´ (> We Know Your Nature/A Tempest) über fünfzehn Minuten ein TOOL´scher Gaumen und alle Sinne Kitzler. Hier möchte sich die ganze Produktion nochmals wie ein Alien mit allen Tentakeln um das Gesicht des Hörers klammern, ehe dieser erledigt darnieder sinkt. Und warum? Weil diese vier Herrschaften – bis auf Adam Jones mittlerweile allesamt weit über 50 Lenze zählend – den Vorgänger kurzerhand übertreffen und weil sie es schlichtweg können. Sie sind TOOL.
(9,5 Punkte)
Michael Haifl
Waren TOOL damals, vor gefühlten ´10.000 Days´, bereits im Feuilleton angekommen? Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, aber das mag auch daran liegen, dass es schon so lange her ist. Nun, heute sind sie es auf jeden Fall. Ist vielleicht auch eine Frage des Alters, vor allem dem ihrer Hörer.
Und waren die Erstauflagen ihrer Platten früher auch schon nach ein paar Tagen ausverkauft, und stiegen folgerichtig im Preis noch höher als die m.E. völlig unnötigen Special Editions? Vermutlich nicht. Aber damals konnten sich ihre Fans auch kaum solche kostspieligen Spielereien leisten. Auf einen Nachfolger des oben genannten Gesamtkunstwerks gewartet haben sie, haben wir trotzdem alle.
Nun ist er da. Und schon mit dem ersten Song schaffen es die Kalifornier spielend, die Uhr zurückzudrehen. Da ist sie wieder, diese Magie, dieser samtige Mantel aus großflächig ausgebreiteten, ständig und wiederholt abgewandelten synthetischen Melodien, den ich auch dringend brauche, um mich darin einzukuscheln gegen die angenehm prickelnde Gänsehaut, die exakt immer dann wieder zurückkommt, wenn Danny Careys Tablaspiel und Justin Chancellors Bassgrooves mit der unverkennbaren, perlenden Gitarre von Adam Jones und Maynard James Keegans exzentrisch-melancholischem Gesang zusammen die Spannung auf die Spitze treiben und in den TOOL-typischen larger-than-life-Riffs entladen lassen. Was für ein Genuss! Noch nach dem vielleicht zwanzigsten Durchlauf kann ich noch längst nicht annähernd alles entdecken, was das Quartett versteckt hat zwischen Polyrhythmik und Drei-Verstärker-Nerdtum, und das ist auch gut so! TOOL-Platten sind für die Ewigkeit, und für geduldige Hörer gemacht.
Und dann beginnt ´Pneuma´ völlig unspektakulär, nur um mich nach dem Vorspiel auf einmal mit seinen Taktwechseln, dem typischen, verschleppten Rhythmus und Sprechgesang mitten in die Zeit von ´Ænima´ und ´Lateralus´ zurückzubeamen, ´Invincible´ dagegen schafft die Punktladung auf ´10.000 Days´. Selbstzitate als Indikator für Größe, welche andere Band unserer Zeit kann sich so etwas erlauben? Doch nach einer derart langen Pause darf man gerne nochmal dran erinnern, was zuvor vorgelegt wurde, zumal das den langjährigen Fan freut, denn genau das ist doch, was man von einer Lieblingsband erwartet – dass man sich gleich beim ersten Hören wieder wie daheim fühlt.
Muss Innovation nicht trotzdem sein? Sie verweigern sich ihr größtenteils auf ´Fear Inoculum´, bleiben sie selbst, sind trotzdem gleichzeitig neu und dosiert anders (´Descending´ mit seinen zweistimmigen Classic-Rock-Gitarren und seinem großartigen Solo, das fast an ein romantisches Volkslied erinnernde ´Culling Voices´). Roh, schnell und wild ist hier, wie schon auf den letzten Veröffentlichungen, jedoch nichts mehr.
Das Quartett hat sich nicht neu erfunden, sondern spielt mit bekannten Elementen, die jedoch nochmals verfeinert wurden. Ist das eine Provokation, oder sogar ein Zeichen von Irrelevanz?
TOOL fragen selbst danach in ´Invincible´:
Warrior struggling, To remain relevant
Warrior struggling, To remain consequential
Cry aloud, Bold and proud
Of where I’ve been, But here I am
Where I end
Als Band der 90er haben TOOL der damals musikalisch sozialisierten Generation eine aus dem Alternative Rock einzigartig progressiv herausstechende, anspruchsvolle Projektionsfläche geboten, sich jedoch kontinuierlich so weiterentwickelt, dass sie mit jeder Platte neue Hörer mit ins Boot nehmen konnten. Ob sie das auch heute schaffen, wird sich zeigen, mit diesem Material stehen die Chancen nicht schlecht. Thematisch ist das Quartett auf der Höhe der Zeit mit einem Album über das Megathema Angst, ihre Infektiosität und der Notwendigkeit, sie zu besiegen; der Titelsong und ´Pneuma´ erzählen davon, wie wichtig es ist, tief durchzuatmen, Klarheit zu gewinnen und sich zu befreien, wenn nötig in einem reinigenden Sturm, wie er in ´7empest´ heraufbeschworen wird.
Muss eine Band also wirklich immer wieder aufs neue die Musikwelt revolutionieren, oder reicht es nicht einfach, die eigenen Fans glücklich zu machen? Andere Bands, gerade im Metal, dürfen Alben ohne diesen Anspruch raushauen, Musik spielen, die einfach nur Spaß macht. Mir jedenfalls macht ´Fear Inocolum´ extrem viel Spaß, mit jedem neuen Durchlauf noch mehr als zuvor. Trotzdem wird sie es nicht schaffen, meine ewigen TOOL-Lieblingsalben zu toppen, was jedoch bei jedem anderen ganz anders aussehen mag. Ich wünsche dieser zeitlosen und doch hochaktuellen Platte viele begeisterte Hörer!
(8,5 Punkte)
U.Violet
TOOL ist eher eine dieser „Love or Hate“-Combos. Ich habe nicht alles von den Herren, spätestens bei `Lateralus` war ich raus. Das nahm mich nicht mit, was dazu führte, dass ich mir u.a. `10.000 Days` nur mal kurz angehört habe. Da hat mich überhaupt nichts berührt. TOOL waren für mich Hype. Gesteigertes Desinteresse meinerseits muss ich ehrlicherweise sagen. Anderseits war ich von der Art der Vermarkung, der Präsenz, dem Drang der Band, sich vom Business zu distanzieren, sehr angetan. Aber letztendlich waren TOOL für mich nie wichtig, was Musik betrifft.
13 Jahre nach dem letzten Album liefern TOOL nun also ein neues Album und die Szene sowie Musikpresse steht Kopf. Und wieder einmal überraschen die Herren mit einer eigenwilligen Veröffentlichungsstrategie. Diskussionswürdig, das steht fest. Kann man eventuell sogar von einer Art Fanabzocke sprechen? Das möchte ich den Herren irgendwie nicht unterstellen, denn dafür ist gerade ein Maynard James Keenan eigentlich nicht der Typ. Man verweise nur auf PUSCIFER und seinen angehängtem Plattenladen und der dazugehörigen Merchandise-Linie und seine Ansichten zu echten Plattenläden generell. Wobei die aktuelle Release-Situation eher nachteilig für eben jene Plattenläden ist. But…
Anyway, genug geschwafelt. Kommen wir zum Kern der Sache, das neue Album `Fear Inoculum`, ein knapp 90 Minuten Monster. Und da liegt schon der Knackpunkt. Wer hat heute noch knapp 90 Minuten Zeit!? Besser, wer nimmt sich heute noch so viel Zeit? Der Durchschnittshörer sicher nicht und dennoch wird durch den Hype gerade diese Gruppe animiert `Fear Inoculum` zu kaufen. Zu welchem Preis allerdings?
`Fear Inoculum` hat tolle Momente und weniger gute, dazu anstrengende Momente. Aber eines wird deutlich, die Produktion ist unfassbar. Man höre sich nur die Drums an. Hier hat man an nichts gespart. Die analoge Aufnahmetechnik, die man hier angeblich angewandt hat, ist wohl die Essenz dessen was aktuell möglich ist.
Musikalisch ist es ein Ritt, ein Mix, ein vermischen von Stilen aus Genres wie Psychedelic, Prog Rock, Heavy Metal der frühen Neunziger, aber auch mit Verweisen in die Achtziger Metal-Szene, dazu Art Rock-Elemente und diesen Drang, sich von allem abzugrenzen.
Im knapp 16-minütigen Übertrack `7empest` höre ich Ansätze von 3rd EAR EXPERIENCE, TRIBE AFTER TRIBE aber auch Achtziger Prog Metal-Versatzstücke heraus. Man zappe sich in Minute 10 rein: TOOL nehmen keine Grenzen an. Die Selbstverpflichtung, sich komplett selbst zu verwirklichen, ist das Credo des Albums. Erwähnte Nummer ist eigentlich fucking Old School, was Härte und Riffing betrifft. Dasselbe kann man von `Invincible` behaupten. Überhaupt überraschen hier und da die Gitarrenstrukturen, die in den teils abstrakten Übergängen sehr bissig klingen.
Überragend auch `Pneuma`, welches dezente Einflüsse des mittleren Ostens parallel zu psychedelischen Synthie-Melodielinien aufbaut, dann überraschend, unvorbereitet mit einer Gitarrenwand einen in die Siebziger Prog Rock-Ära katapultiert. Nicht zu vergessen diverse bluesige Passagen und zu guter Letzt sogar echte Metalriffs erkennen lässt. Das nennt man dann wohl Kunst. Fantastischer Song. Ein Stück wie eine Zeitreise durch die Musikgeschichte.
Das Gesamtkonzept des Albums geht auf, auch wenn eine Nummer wie `Descending` zu zwei Dritteln belanglos ist und erst im letzten Drittel zu gewohnt hoher Qualität zurückfindet.
Man muss sich nicht über jeden Track auslassen, es ist nicht wirklich möglich, die Atmosphäre der Stücke zu beschreiben, in Worte zu fassen, um den Hype zu diesem Album zu erklären. Es ist tolle Musik, mit einem wahnsinnig geilen Sound. Und es ist ein zeitintensives Album. Wer sich diese Zeit nimmt, wird in der Tiefe der Stücke viel Geniales finden. Alle anderen werden sich sowieso nicht die Zeit nehmen. Time is running. Der nächste Hype wartet.
(8 Punkte)
Jürgen Tschamler