Was macht eine Band so einzigartig, dass ihre Fans weit über eine Dekade mehr oder weniger geduldig auf ein neues Album hoffen und warten? Was unterscheidet sie von anderen Interpreten, für die sich nach solch langer Pause kaum jemand mehr interessiert? Und können sie nach so langer Zeit überhaupt noch an ihre früheren Erfolge anknüpfen, haben sie noch irgendeine Relevanz in der heutigen Musikwelt?
Diesen Fragen müssen sich TOOL spätestens seit der endgültigen Ankündigung von ´Fear Inoculum´ stellen, und zwar in einer Welt, die sich in den vergangenen 13 Jahren ausschließlich in absolute Extreme entwickelt hat. Musikalisch sind sie Relikte aus einer Zeit, in der wir mit Freunden Musikvideos im Fernsehen anschauten statt uns von youtube-Influencern darüber aufklären zu lassen, was man gerade angesagt zu finden hat, wir Platten bzw. CDs noch physisch kauften statt sie zu streamen (wogegen sich die kalifornischen Artwork-Nerds lange wehrten), und das Leben mangels Smartphones und ständiger Erreichbarkeit in kaum noch erinnerbar ruhigeren Bahnen verlief als heute.
Das World Wide Net und seine krakenartigen Auswüchse, die TOOL schon vor vielen Jahren anprangerten, regieren heutzutage fast sämtliche Aspekte unseres Lebens, zwischen unbegrenztem Konsum und akzeptierter Überwachung, immer weiter aufgespreizter Armutsschere und schwelenden Kriegsherden, ökologischen Endzeitszenarien und politischem Extremismus scheint die Zeit für positive Utopien endgültig vorbei zu sein, auch wenn gerade solche niemals Sache der extrem kritischen und nachdenklichen Kalifornier waren. Da scheint sogar die Erinnerung an die Jahrtausendwende retrospektiv golden am Horizont auf, und folgerichtig präsentieren uns auch TOOL mit ´Fear Inoculum´ nun eine janusköpfige Platte mit sowohl nach hinten wie nach vorn gerichteter Perspektive, die geradezu einlädt, sich nochmals mit der fast dreißigjährigen Geschichte der Band auseinanderzusetzen.
Wie alles anfing
Daher zurück ins letzte Jahrtausend: 1990 im künstlerisch brodelnden Los Angeles, zur Hochzeit des Grunge gegründet, wurden TOOL Dank des Lollapalooza-Festivals sehr schnell szeneweit bekannt. Gitarrist Adam Jones hatte schon zu Schulzeiten eine Band mit Tom Morello, dem späteren Gitarristen von RAGE AGAINST THE MACHINE, und der freundschaftliche Kontakt beider Bands bleibt auch später bestehen und zeigt sich in gemeinsamen Touren und Veröffentlichungen. Jones war nach LA gekommen, um als Special Effekt-Spezialist in der Filmindustrie zu arbeiten, und übernahm schnell die visuelle Gestaltung der TOOL-Artworks sowie die Regie bei ihren oft in Stop-Motion-Technik produzierten und in den USA wegen ihrer drastischen Darstellungen meist zensierten Musikvideos. Drummer Danny Carey hat sein Leben (neben dem Basketball, er hatte sogar die Chance Profispieler zu werden, und spielt auch heute noch in einer Promimannschaft) dem Schlagzeugspiel geweiht, schon zu Schulzeiten in Jazzbands gespielt und sich während seines Musikstudiums zusätzlich zu Rhythmik auch mit Geometrie, Metaphysik und Okkultismus beschäftigt, um all dies in seinem Spiel zu vereinigen. Dies macht TOOL nicht nur für Perkussionisten interessant, die meist ungeraden Taktzahlen, geometrischen Taktfiguren und ständigen Rhythmuswechsel begeistern vor allem Progfreaks und geben Anlass zu vielerlei, gerade auch von der Band befeuerten esoterischen Deutungen der verwendeten Takte. Carey kann sich und den Hörer in Trance trommeln, kein Frage!
Dazu trägt aber auch Maynard James Keenan mit seinem melancholischen, in sich gekehrten Gesang bei. Bei Konzerten sucht der Sänger so gut wie keinen Kontakt zum Publikum, kann dafür jedoch mit exzentrischen Kostümen und noch speziellerem Tanzstil beeindrucken. Wer möchte, kann mittlerweile auch Weine des studierten Innenarchitekten goutieren, der von norditalienischen Winzern abstammt und heute auf seinem Weingut in Arizona lebt. Der einzige Posten, der in der langen Bandgeschichte einmal ausgetauscht wurde, ist der des Bassisten. Bis 1995 von Paul d’Amour eingenommen, der die Band zu Beginn der ´Ænima´-Aufnahmen verließ, bringt seitdem Justin Chancellor (Ex-PEACH) die tiefen Saiten virtuos und ekstatisch zum Tanzen.
Das erste kommerzielle Lebenszeichen der Band kam 1992 auf den Markt, die nach Marx‘ Religionskritik betitelte EP ´Opiate´. Ihre sechs Songs (4 Studio-, 2 Livetracks) umfassen aus Marketinggründen das härteste, „metallischste“ Material, das TOOL damals geschrieben hatte, und zeigen die Band trotzdem schon mit ihren späteren Markenzeichen, dem komplexen Drumming, den teils progressiv wabernden Songstrukturen, teils verschleppt-grungigen Rhythmen, ihren Wurzeln im Hardcore-Punk sowie dem charakteristischen, zwischen harschen Parts, Sprechgesang und zarten Passagen wechselnden Gesang Keenans.
TOOL waren und sind außerdem oft Inhalt von Aprilscherzen, hierum hat sich gerade in den USA ein richtiger Wettbewerb entwickelt.
Erste Platten und Hitstatus
1993 erschien dann ihre erste Langspielplatte. ´Undertow´ ist noch sehr dem Grunge verbunden, extrem rhythmusbetont und hat noch lange nicht dieses vielschichtig Verkünstelte späterer Werke, ist jedoch alles andere als einfache Musik, und schlägt im Untergrund hohe Wellen. Zwei Singlehits sind zu verzeichnen: ´Prison Sex´ und ´Sober´ kommen nicht nur bei ALICE IN CHAINS-, JANE’S ADDICITON- und SOUNDGARDEN-Fans sehr gut an. Letzterer Song weist schon den Weg zur nächsten Platte, ´Ænima´, die 1996 auf den Markt kommt. Immer noch sehr roh und noisig, vom Alternative und Hardcore beeinflusst, war das die Platte, die meinen Erstkontakt mit der Band herstellte. Wobei – eigentlich war es ja das:
Dank MTV gab es hier auf einmal Dinge zu sehen, die ich bisher nicht mit Musikvideos in Zusammenhang gebracht hatte, verstörend, aber auch faszinierend. Und dann diese Musik! Das war neu, das war spannend, das war komplett anders, so etwas hatte man zuvor noch nie gehört, und das in Zeiten des Crossover, die die 90er ja schließlich waren. TOOL haben tatsächlich ihren ureigenen Stil kreiert (sie nennen ihn selbst ganz bescheiden: „Thinking Man‘s Metal“), eine Mixtur bisher unvereinbarer Elemente wie noisig-rohem, Hardcore-lastigem Alternative Metal mit Progressive- und Artrock, 15 komplexe, oft lange, ellipsenartige, ausufernde Songs, weiterhin starke Rhythmusbetonung, große Dynamikwechsel, ungezügelte Gitarrenarbeit, die alle möglichen Klänge ausprobiert, und ein Gesang, der zwischen angepisst und schmeichelnd oszilliert. Schon immer experimentell, machen sie nun endgültig was sie wollen, inklusive diverser Specials wie der o.g. Eier von Satan oder gesprochenen Messages, und ´Ænima´ hat auch das erste Cover mit speziellen optischen Effekten, was ebenfalls ein Markenzeichen der Band werden sollte. Für den Song ´Aenema´ gab es den ersten Grammy.
´Ænima´ ist ihre experimentellste und vielseitigste Platte, wer sich darin wiederfand, wurde ewiger Fan, ja hatte gar keine andere Chance. Von Musikern in den Himmel gepriesen, aber auch von Fans, die sowohl in Klängen versinken als auch immer wieder neue Details entdecken möchten über alles geliebt, ist sie eine meiner meistgehörten Platten überhaupt.
´Lateralus´ & ´10.000 Days´
Da sich durch einen Rechtsstreit mit der Plattenfirma die Entstehung des nächsten Albums verzögerte, entstanden als Nebenprojekt Keenans die genauso vergötterten A PERFECT CIRCLE. Und dann ging es einfach genauso weiter wie zuvor: fünf Jahre später setzt ´Lateralus´ all dem Erfolg von ´Ænima´ nochmals eins drauf, und folgerichtig gibt’s den zweiten Grammy für ´Schism´. TOOL sind auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs angelangt, die Platte steigt in vielen Ländern gleich unter den Top Ten in den Albumcharts ein. Das Artwork der CD besticht durch seine aufwendige und ungewohnte Gestaltung durch den Künstler Alex Grey: aus transparenter Folie bestehend, zeigt es wie ein Anatomieatlas einen lateralen Schnitt durch den Menschen und seine inneren Organe, die CD selbst steckt in einer transparenten, wie mit Schaltkreisen bedruckten Hülle. Auf ihrer Welttournee zu ´Lateralus´ spielen TOOL auch einige Gigs mit den von ihren hochverehrten KING CRIMSON, von denen sie stilistisch genauso beeinflusst sind wie von PINK FLOYD oder LED ZEPPELIN. Sie sind Analogfreaks und spielen sämtlich elektronischen Parts auch live stets selbst, Playback benutzt TOOL nicht, dafür fahren sie live unglaubliche Laser- und Lightshows auf. Die visuelle Seite hat bei ihnen genauso viel Gewicht wie die Musik, so wie seine Mitglieder in vielerlei Weise künstlerisch tätig sind, ist TOOL selbst ein Gesamtkunstwerk, und es macht Spaß, darin nach wiederkehrenden Motiven (Augen!!!) zu suchen.
Stilistisch hat ´Lateralus´ Tempo herausgenommen zugunsten nochmals verstärkter Komplexität, behält trotzdem weiter seine oft aggressive Kante; beim 2006 das Dunkel der CD-Player erblickenden Nachfolger ´10.000 Days´ verfolgen TOOL diesen Weg weiter. Danny Carey setzt noch stärker sein Tablaspiel ein, was den Songs eine orientalische Einfärbung verleiht, generell werden unglaublich große, schwebende Spannnungsbögen aufgespannt, und im Gegensatz zu seinen verschachtelten Vorgängern wirkt das Album wie aus einem Guss und lässt sich wunderbar in (möglicherweise tranceerzeugender) Dauerschleife hören. Der Name ist eine Hommage an die siebenundzwanzigjährige Kranken- und Leidensgeschichte von Maynard James Keenans 2003 verstorbener Mutter, der auch zwei Songs gewidmet sind (´Wings for Marie (Pt 1)´, ´10,000 Days (Wings Pt 2)´). Wieder zeichnet Alex Grey für die aufwendige Covergestaltung verantwortlich, die der Band den dritten Grammy einbrachte und aus esoterischen Bildern besteht, die mit der beigefügten Stereobrille in 3D angeschaut werden können, eine Version von Greys „Net of Being“ erscheint auch im Video zum Albumopener ´Vicarious´:
Thematisch setzen sich TOOL auch auf ´10.000 Days´ mit menschlichen Themen wie Schmerz, Angst und Leid, aber genauso mit persönlicher Weiterentwicklung durch Selbstreflexion, und den dazugehörigen spirituellen, philosophisch/psychologischen wie auch politischen Fragen, ja der Evolution der gesamten Menschheit auseinander. Dies ist auch beim Nachfolger ´Fear Inoculum´ nicht anders, auf den ihre Fans dreizehn lange Jahre warten mussten, und ob sich das Warten gelohnt hat, erfahrt ihr unserem Review hier.
Ihre Texte, die bis zur neuesten Platte nie veröffentlicht wurden, bleiben bei aller Detailverliebtheit offen für Interpretation, und in speziellen Internetforen findet dann auch ein exzessiver Austausch über mögliche Bedeutungen statt. Keenan sagt darüber nur, dass die Musik Inspiration für seine Texte sei, und er sie offenhalten möchte für persönliche Deutung durch den Zuhörer. Im Laufe ihrer Karriere haben sie gegen Zensur (u.a. die „Parental Advisory“-Kampagne) protestiert, Songs über Kindesmissbrauch (´Prison Sex´), Drogengebrauch (´Rosetta Stoned´) wie Wiedergeburt (´Parabol´) und viele weitere, oft unbequeme Themen geschrieben, und waren dabei niemals seicht oder zu direkt. TOOL zeigen gesellschaftliche Missstände, technologische Herausforderungen und spirituelle Notwendigkeiten auf, und sehen sich selbst dabei als WERKZEUG für die Weiterentwicklung eines jeden von uns. Sie sind, ohne dass sie das wollten, seit vielen Jahren ein eigener Kult geworden, doch das sollte keinen Neuling davon abhalten, ihr unendliches Universum an Wohl- wie Missklang, Schönheit wie Härte sowie Philosophie wie Realität zu erforschen – und für seinen eigenen Weg zu einem besseren Menschen zu nutzen.
Diskographie:
Opiate (EP, 1992)
Undertow (1993)
Ænima (1996)
Lateralus (2001)
10,000 Days (2006)
Fear Inoculum (2019)