CHANDELIER
~ Und ewig locken die Rheintöchter
(sowie Ruhm & Ehre und der ganze Rest) ~
Als sich CHANDELIER aufmachen sollten, 2019 die Bühne des “Night of the Prog”-Festivals zu stürmen, baten wir Bassist Christoph Rombach um einen kleinen Erlebnisbericht. Doch er kam mit einem epischen Text zurück, der die Anfänge dieses einmaligen Auftritts miteinbezieht. Genießt diese Zeilen, über den womöglich letzten Auftritt von CHANDELIER:
Die Loreley zieht bekanntlich nicht nur Schiffer und Turnerhelden an, sondern auch Musiker jeglicher Couleur: 1976 treten GENESIS als erste Rockband auf der Freilichtbühne auf, und für die Musikfans meiner Generation sind die Rockpalast TV-Übertragungen vom Rheinfelsen in den 80er Jahren Pflichttermine. 1987 bin ich dann erstmals selbst im Publikum, um MARILLION zu sehen und die damals noch unbekannten IT BITES zu entdecken, die mich mit ihrem coolen Prog-Pop-Gefrickel auf der Stelle zum Fan konvertieren. Mitkonvertiert wird auch ein gewisser Martin Eden, seines Zeichens Sänger unser Band CHANDELIER, die wenige Wochen vorher in einem Neusser Jugendheim vor ein paar Dutzend Freunden ihr erstes Konzert gegeben hat. Zu gerne würde ich heute behaupten, dass wir uns schon damals geschworen haben, eines Tages mit CHANDELIER selbst auf der steinigen Freilichtbühne zu stehen. Aber so vermessen sind wir da (noch) nicht. Der nächste CHANDELIER-Gig soll in einem benachbarten Pfarrgemeindesaal stattfinden, das ist eher so unsere Grössenordnung…
Zur Loreley komme ich erst 2011 wieder, um eine andere Lieblingsband zu sehen: IQ hatte ich Dutzende Male live erlebt, diesmal will ich sie mir im Rahmen der “Night of the Prog” angucken. Das Festival hat sich in den vorangegangenen Jahren zum Pflichttermin für jeden self-respecting Prog Fan gemausert, auf dem sich altgediente Szenehelden und hoffnungsvolle Newcomer gleichermaßen einem großen Publikum präsentieren. IQ haben leider nicht ihren allerbesten Tag: ist es die ungewohnt frühe Auftrittszeit, ein schlechter Monitorsound, die abwartende Haltung des mehrheitlich aus DREAM THEATER-Fans bestehenden Publikums? Jedenfalls bleibt mir von diesem Tag vor allem in Erinnerung, dass auch die normalerweise großartigste Live-Band der Welt nachmittags um 17h, ohne Soundcheck, Lightshow etc. auf einem Open-Air-Festival einen schweren Stand haben kann…
CHANDELIER sind zu dieser Zeit schon lange Geschichte. Die Band hatte in den 90ern drei CDs bei “Inside Out” veröffentlicht, sich aber 1998 nach einer Tour mit SPOCK’S BEARD sang- und klanglos aufgelöst. Das Prog-Revival der 00er Jahre brachte neue Helden hervor, unsere kleine Band geriet in Vergessenheit und man selbst hatte ja auch ein durchaus lebenswertes Leben jenseits der Musik, so dass dieses Vergessen nicht weiter störte. Der Kontakt unter den ehemaligen Musikern war freundlich aber selten, so dass es ein paar Zufälle bedarf, um den «schlafenden Mini-Riesen» wieder wach zu kitzeln:
Bei einem IQ-Konzert im Aschaffenburger Colos-Saal laufe ich unserem Gitarristen Udo Lang über den Weg, man tauscht Handynummern aus, trifft sich auf eine Jam-Session mit unserem alten Schlagzeuger Herry Rubarth und überlegt, ein Best Of-Album zusammenzustellen und dafür vielleicht ein bis zwei alte Nummern neu aufzunehmen. Mit dem Elan eines Peter Gabriel machen wir uns an die Arbeit, d.h. es passiert über viele Jahre erstmal gar nichts, bis dann im Juni 2017 das polnische Label “GAD Records” anfragt, ob sie nicht unsere alten CDs wiederveröffentlichen können. Als obsessiver Käufer gut gemachter CD-Reissues mache ich mich mit Udo und Herry an die Arbeit, in den Kellern und Speichern nach alten Kassetten, Fotos und weiterem Archivmaterial zu suchen. Im September 2018 erscheinen dann die beiden ersten Reissues, wunderbar remastered von Eroc, und versehen mit neuen Booklets, Liner Notes und Bonus CDs. Das Feedback auf die Wiederveröffentlichungen ist freundlich bis euphorisch, wobei uns noch viele Journalisten von «damals» kennen und wir so dankenswerterweise von einem fetten Nostalgie-Bonus zehren können.
Im Januar diesen Jahres tut sich für uns dann kurz der Himmel auf: das “Eclipsed” nimmt die Neuauflage unserer zweiten CD ´Facing Gravity´ in ihrem Jahresrückblick in die Liste der Top Ten Boxsets/Reissues auf, auf Platz 7 – und damit vor IQ, die mit ihrem schicken ´Ever25´-Boxset auf Platz 8 landen. Als kleines Großmaul kann ich es mir nicht verkneifen, einen Screenshot dieses Rankings an meinen alten Kumpel/IQ-Ultra/GEP-Mitbesitzer/Prog-Impresario und all around great guy Peter Huth zu schicken, verbunden mit der eher scherzhaft gemeinten Frage, ob wir jetzt nicht auch auf der Loreley vor IQ spielen könnten. 30 Sekunden später ist Peter am Telefon und meint, dass er versuchen würde uns dort unterzubringen, wenn ich die Band denn wieder zusammenbekomme…
Oh je, die Band wieder zusammenbekommen…! Tatsächlich war es anlässlich der CD-Reissues zu einer Art kulinarischen Reunion gekommen, «beim Mexikaner». Aber dort hatte sich dann schnell gezeigt, dass nicht alle ehemaligen Mitstreiter meine neu erwachte Begeisterung für die guten alten Zeiten teilen: Keyboarder Tobias Budnowski hat seit dem letzten Konzert im Februar 1998 nie wieder in die Tasten gehauen, und Sänger Martin ist ebenfalls eher desinteressiert, sich in irgendeiner Weise mit seiner musikalischen Vergangenheit zu beschäftigen. Aber ein Auftritt auf der Loreley…?
Und tatsächlich, der Zauber der Rheintöchter wirkt noch: so irre es zunächst einmal klingt, nach über 20 Jahren Bühnenabstinenz mal eben vor ein paar tausend Leuten 90 Minuten lang Musik zu machen (nachmittags um 17h, ohne Soundcheck, Lightshow… äh, da war doch was), so schnell kommen die Zusagen, dass man sich das dann doch nicht entgehen lassen will. Ok, Tobias sagt nach kurzer Bedenkzeit ab, so dass wir uns noch einen Keyboarder organisieren müssen, aber auch hier ist schnell eine Lösung gefunden: Herrys letzte Band ELLEVEN pausiert gerade und so hat deren Keyboarder Armin Riemer Zeit und Lust, bei unserem Himmelfahrtskommando einzusteigen. Rückmeldung an den NOTP-Promoter Winfried Völklein, dass wir startklar sind, dazu noch kräftiger Rückenwind von Eclipsed-Mastermind Marcus Wicker, und dann kommt sie, die Zusage von WIV und die offizielle Ankündigung, dass es ein paar längst vergessene Prog-Opas nochmal wissen wollen…
Für die nächsten Monaten ist dann erstmal ganz prosaisch viel Üben im heimischen Musikzimmer angesagt – und alle paar Wochen von Basel den Rhein hoch – an der Loreley vorbei – nach Neuss zu den Bandproben. Die erste dieser Sessions ist dann ein erster rand-magischer Moment, nach 25 Jahren mit den alten Kumpanen die alten Songs zu spielen.
Bei meinem Ausstieg 1993 konnte ich die Sachen nicht mehr hören, jetzt kommen sie mir sehr frisch und kraftvoll vor. Sehr schön dann auch das erste Telefonat mit GROBSCHNITT-Legende Toni Moff Mollo, der sofort zusagt, uns wie früher als Gastsänger zu unterstützen.
Auch “GAD Records” ist recht angetan von unseren Reunion-Plänen, pressen gleich mal weitere CDs und spendieren uns eine limitierte Vinylausgabe von ´Facing Gravity´ als Doppel-LP mit schickem Gatefold-Cover. So werden Jugendträume wahr…
Je näher der Konzerttermin rückt, desto grösser wird dann die Mischung aus freudiger Erwartung und blanker Panik. Ja, die Proben laufen von Mal zu Mal besser, selbst fiese Songs wie ´Timecode´ bekommen wir langsam in den Griff – aber was, wenn… Udos Amp durchschmorrt, der Monitor-Sound schlecht ist, die Leute uns doof finden, Martins Stimme oder meine Nerven kollabieren?
Um ein bisschen Druck aus dem Kessel zu nehmen entscheiden wir uns, eine Art Generalprobe vor Freunden und Familie zu machen. In einer Neusser Musikkneipe buchen wir den Vorabend des Loreley-Konzerts als Armin & die Armleuchter – das Ganze soll auch in Zeiten von Facebook & Co. möglichst unbemerkt bleiben.
Auf einer Bühne, die etwa so groß ist wie Herrys Schlagzeugpodest auf der Loreley spielen wir uns dann vor knapp 100 geladenen Gästen einmal durch den Set – und haben danach das gute Gefühl, dass es vielleicht tatsächlich klappen könnte am nächsten Tag.
Unser L-Day besteht dann zunächst mal aus ziemlich viel Warterei: frühe Abfahrt in Neuss, die zwei Stunden runter nach St. Goarshausen dauern ewig, selbst die Schlängelroute hoch zur Open Air-Bühne kommt mir endlos vor. Ausladen der Instrumente im Backstage Bereich, der wie ein großer Verladebahnhof wirkt, in dem auf einem Dutzend Podesten Drumsets und Keyboard-Riggs aufgebaut und nach Belieben hin und her gerollt werden.
Und dann: rumhängen im noch leeren Rund der Freilichtbühne, Käffchen trinken, Nervenfutter bunkern, sinnloserweise weil total verfrüht schon mal die Bässe stimmen… Den meisten anderen Bands geht wohl es ähnlich, die große Backstage-Party kommt jedenfalls nicht auf, jeder ist doch sehr mit sich selbst beschäftigt.
Gegen 14h strömt endlich das Publikum rein und die holländischen Kollegen von DILEMMA übernehmen die undankbare Aufgabe, als erste Band im noch halbleeren Rund zu spielen. Danach die Virtuosen von SPECIAL PROVIDENCE, die in einem Song mehr Töne spielen als wir in unserem ganzen Set (but in a good way!).
Währenddessen machen wir uns zu einem unerwarteten Highlight auf: Eher zögerlich hatten wir im Vorfeld zugesagt, eine «signing session» zu absolvieren – wer bitte sollte sich für Autogramme von uns interessieren?!? Und noch auf dem Weg zum Signing-Zelt denke ich mir, dass dies wohl die kürzeste Autogrammstunde in der Geschichte der Rockmusik werden wird. Aber dann: eine halbe Stunde lang sitzen wir fünf wie Hühner auf der Stange und unterschreiben CD-Booklets, Plattencover, Zeitungsartikel, Programmhefte, posieren für Selfies – und bekommen dabei so viel gute Vibes von all diesen Leuten, dass im Minutentakt das Selbstvertrauen und die Vorfreude auf unseren Auftritt steigt…
Dann endlich: Showtime! Unsere Podeste werden auf die Bühne geschoben, ein kurzer Line-Check ob alles korrekt verkabelt ist, ein paar Takte um den Bühnensound zu testen… und los geht’s: Armin spielt das Intro ein (die ersten Takte vom GENESIS–Song ´Lamia´, bei dem sich das Wort CHANDELIER dann wie auf einer zerkratzten Platte mehrfach wiederholt), Herry zählt an, wir starten mit – was sonst – ´Start It´.
Breites Grinsen und geballte Yeah-Fäuste in den ersten Reihen, Leute singen den Refrain mit, zum Schluss tosender Applaus! Bei der zweiten Nummer kommen wir für ein paar Sekunden ins Schwimmen, fangen uns aber wieder und von da an wird es ein überraschend fehlerfreier Auftritt.
Meine Liste der Befürchtungen löst sich in Wohlgefallen auf: Bühnensound? Laut & deutlich! Auftritt bei Tageslicht? Toll, ich kann sogar meine Familie sehen! Udos Amp und Martins Stimme? Halten wunderbar, und der lange so skeptische Martin erweist sich als echte Rampensau und hat sogar die Chuzpe, den Leuten noch den Kauf seiner Prog-Trash-Novella «Commander Pimmel» ans Herz zu legen.
Am Bühnenrand fiebern die beiden einzigen echten Profis in unserer Entourage mit: Stage Manager Michael Schmitz hat uns in den 90ern zu “Inside Out” gelotst, heutzutage betreut er schon mal Kaliber wie Joe Bonamassa oder Klaus Schulze. Neben ihm wartet Toni Moff Mollo auf seinen Kurzauftritt. Der Mann hat über 2.000 Konzerte gespielt und freut sich dennoch seit Wochen diebisch auf diese Nummer. Später wird er viele GROBSCHNITT-Fans wiedersehen, die heute auch wegen ihm den Weg zur Loreley gefunden haben. Und oben im FOH-Turm sitzt unser alter Produzent René Förster, den wir auch extra für die Loreley aus dem Vorruhestand reaktiviert haben. Er wollte eigentlich nur beim Soundmann sitzen und zugucken, hat dann aber kurzfristig doch selbst die Regler übernommen.
Die 85 Minuten vergehen wie im Flug und bei der letzten Nummer ´Mountain High´ dann plötzlich Wehmut: «Das sind jetzt die letzten Minuten deines letzten Konzerts, Alter! Denn so schön wird es nie wieder, nach diesem Highlight kann es nur noch abwärts gehen!»
Dann Schluss, unter Zugabe-Rufen runter von der Bühne, backstage schnell die Instrumente verpackt, ein paar lobende Worte von Basslegende John Jowitt (der später in einem launigen Post sein Himmel-und-Hölle-Loreley-Wochenende beschreiben wird) und endlich total euphorisiert in den Biergarten, wo die Familie wartet…
Der Rest des Abends verschwimmt dann ein wenig in bester Laune und Alkohol. Es gibt viele Umarmungen, Schulterklopfen, Selfies mit glücklichen Menschen, Interviews. Zum Schluss noch Abrechnung mit den Leuten vom Merchandising – und auch hier alles in Butter: sieht so aus als hätten wir gerade genug CDs und T-Shirts verkauft, um die Unkosten der letzten fünf Monate zu stemmen.
Und so endet eine zweijährige Reise in die Vergangenheit und beschert unserer kleinen Band mit 20 Jahren Verspätung doch noch ihr verdientes Abschiedskonzert.
«Und, kommt da jetzt noch was?», werden wir seitdem immer wieder gefragt. Eigentlich soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist, und schöner als an diesem Freitag bei den Rheintöchtern kann es für einen kleinen, alten Kahn wie CHANDELIER wirklich nicht kommen.
Andererseits haben uns gerade die beiden letzten Jahre gezeigt, dass man erstens nie «nie» sagen sollte und zweitens die Hilfsbereitschaft innerhalb dieser Szene nicht unterschätzt darf. Dank “GAD Records” konnten wir unsere alten CDs wiederveröffentlichen, dank IQ und Eclipsed bekamen wir unseren Fuss in die NOTP-Tür, und dank Winfried und Christian Gerhardts von WIV konnten wir mit 3.000 Leuten so einen schönen Moment teilen. Also schauen wir mal, welche glücklichen Zufälle und freundliche Gesten wir noch so erleben dürfen. Zur Not gilt, was unser Sänger zum Abschluss des Konzerts sagte: «Wir sehen uns in 20 Jahren wieder!»
Text: Christoph Rombach
Bilder in der Reihenfolge von: Christoph Rombach (Titel), Judith Lang (5x), Christoph Rombach (4x),
Stephan Rombach, Dirk Foerger, Oliver Niklas (3x), Dirk Foerger, Christoph Rombach, Oliver Niklas (2x), Stephan Rombach.