Geschichte wird gemacht: Deutscher Underground in den Achtzigern
~ 2019 (Heyne Hardcore) – Ein Fotoband von Richard Gleim ~
Die Achtzigerjahre sind lebendiger als jemals zuvor, sie leben musikalisch in uns weiter. Es gibt wenig Musikschaffende, die unter keinerlei offensichtlicher Berührung von dieser Zeit musizieren.
Der Übergang von den Siebzigern zu den Achtzigern barg einen gehörigen Umbruch. Die Dinosaurier des Rock sollten auf dem Schrottplatz entsorgt werden, in England breitete sich der Punk als auch die NWoBHM aus. Die deutschen Epizentren der Punk-Bewegung waren Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Mittendrin Richard Gleim, von seinen Freunden liebevoll und international klingend nur ar/gee genannt. Er war mit seiner Kamera allzeit vor Ort und drückte im entscheidenden Moment auf den Auslöser. Bevor von einer Szene überhaupt gesprochen werden konnte, war er bereits ihr ständiger Begleiter. Der einstige Jazz-Musiker war der Mann mit der Kamera, unauffällig stand er in der ersten Reihe, hielt für sich die Ereignisse fest. In Zeiten ohne Internet waren seine Bilder das einzige Medium, das über Zeitschriften und Magazine allen Kids den gegenwärtigen Umbruch vor Augen führte.
In jenen Tagen wurde Geschichte geschrieben. „Geschichte wird gemacht, es geht voran“, sangen FEHLFARBEN. ´Geschichte wird gemacht´ nennt sich der neue Fotoband von Richard „ar/gee“ Gleim, herausgegeben von Xaõ Seffcheque und Edmund Labonté. Er widmet sich dem deutschen Underground der frühen Achtzigerjahre.
Weit über 200 Fotografien spiegeln hautnah den Geist dieser Tage wider. Der Betrachter spürt die Nähe und die Tausendstelsekunde, in der die Aufnahmen von Richard Gleim erstanden. Gleims schwarz-weiße Kunstwerke schmückten in der Vergangenheit bereits unzählige Beiträge, Ausstellungen und Bildbände.
Ar/gee war nur ein stiller Begleiter der Ereignisse, doch seine Kamera wurde zum Protagonist, von der noch Generationen hernach zehren werden. Er hielt die Tage und Jahre fest, als die Jugend auf alles zu kotzen und zu spucken begann, auf ihre Eltern und deren Kultur.
Schweiß und Abgeklärtheit, schlechte Zähne, schlechte und durchgestylte Frisuren, ebensolche Körper und Köpfe, blicken uns aus den Bildern entgegen. Die Zeit war wild und dreckig, „No Future“ die Parole. Die Zukunft musste in der Gegenwart gefeiert werden, wenn man keine Zukunft mehr sah. Wenn das Feuer sowieso schon glimmt, konnte man es auch selber vollends entfachen. Die Jugend war politisch, brauchte keine Greta als Galionsfigur des Protests. Nicht nur an Freitagen, das ganze Leben war ein Protest. Revolutionäre im Leben, im Alltag, in der Politik und der Musik.
Unveröffentlichte und enorm wichtige Bildzeugnisse von ar/gee erzählen aus dieser Zeit. Zeitgenossen oder Zuspätgeborene schildern gleichzeitig in kleinen Essays ihr Leben oder ihre Beziehung zu den Tagen des Punk, des New Wave oder der Neuen Deutschen Welle, u.a. Peter Hein (MITTAGSPAUSE, FEHLFARBEN, FAMILY*5), Frank Spilker (DIE STERNE) und Xaõ Seffcheque, bürgerlich Alexander Sevschek, (FAMILY*5, DIE POST, DIE PEST). Jeder von ihnen hat andere Vorstellungen, ab welchem Zeitpunkt die Achtzigerjahre als beendet anzusehen sind, oder enden die Siebzigerjahre erst vollständig in der Mitte der Achtziger?
Neue Musik war schwer erhältlich, ohne Internet und als Maßstab allein die ZDF-Hitparade vor Augen. Nur über Bekannte und Verwandte kam man an bahnbrechende Informationen, entdeckte Bands wie JOY DIVISION, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, ÄRZTE, HOSEN und ZITRONEN. Die STRASSENJUNGS waren noch zu sehr Hardrock. Auch im Vogelsbergkreis und am Rande des Spreewaldes ging der Punk ab. Die Erinnerungen der Autorinnen und Autoren zeugen hiervon. Und Poetry Slam gab es schon 1979 in Wuppertal. Die Ausführungen sind lebendig, da heißt es inne halten und sodann an den Bildern lange verharren.
Die Geschichte wurde bereits gelebt, doch über sie wird weiter geschrieben, bald vierzig Jahre später. Diese nachträglichen Bestandsaufnahmen sind enorm wichtig für die Überlebenden und ihre Nachkommen. Es war natürlich keine ganze Generation unterwegs, aber eine Ansammlung an wenigen Brennpunkten prägte den Moment der Revolution, den des Punk. Der Ausgangspunkt in der mit Bildern zu erzählenden Geschichte ist der „Ratinger Hof“ in Düsseldorf. Es wird vor, am und im Hof gefeiert. Die Mauern des gegenüber liegenden Amtsgerichts werden nachts als Chill-Stätte genutzt. Hamburg hat dagegen seine „Marktstube“ und Berlin das „SO36“.
Pinnwände sehen in jenen Tagen nicht anders als die Fensterauslage eines Punk-Plattenladens aus. Unzählige Gruppen formieren sich. DAF, bei denen 1981 die Bühne noch dem Publikum gehörte und sie Gitarre und Bass nutzten, KRUPPS, MITTAGSPAUSE oder ÖSTRO 430. Die Radiosender spielen zwar FEHLFARBEN, aber sonst geht nichts voran. Es gibt noch Brieffreundschaften. Udo Lindenberg und Nina Hagen sind out, die Lyriks von Kiev Stingl sind in.
Man spielte was man wollte, nicht was man konnte. Der Punk ist schuld, dass – erst recht heutzutage – jeder meint, eine Platte einspielen zu können und jeder in jedes Körperteil Ringe einbringt. Punk war Übergang, aber ein großer und er bleibt bestehen. Außergewöhnlich kraftvolle Bilder von Blixa Bargeld, Peter Hein, Inga Humpe, MANIA D stehen stellvertretend für viele festgehaltene Künstler. Später sehen wir noch Philip Boa und LÜDE & DIE ASTROS; die All-Stars LORDS OF THE NEW CHURCH kommen selbstredend nicht zu Wort, sondern ins Bild.
Die Generation Punk löste die Hippie-Jugend ab, im Internet-freien Zeitalter halfen allein Bilder als Anregungen für das eigene Äußere. Irgendwann spaltete sich die Punk-Szene anhand der Haarlänge. Timo Blunck und Blixa Bargeld führten die Charts der Top-Frisuren an. Es wurde Mode gezeigt, die keine war, Un-Mode kleidete die schrillen Selbstdarsteller anno 1980. Der Edel-Punk ließ nicht lange auf sich warten. Cool, cooler, am coolsten. Ab dem Jahre 1985 wurden die Accessoires luxuriös und verhältnismäßig protzig präsentiert. Herausragende Fotografien aus Publikum und Posen bilden diese Entwicklung ab.
Richard Gleim erinnert sich an Wendy O. Jackson (PLASMATICS). Die brillanten Bilder wirken, sind nackt und zerstörerisch, belegen erprobtes zertrümmern. Auch an NICO erinnert er sich, sie spricht live Kölsch und trinkt billigen Wein, sowie an THE RESIDENTS und ihre Enttarnung. Außerdem kommt ein morbides Konzerterlebnis und eine Begegnung mit einem in allerlei Hinsicht geradewegs aufgefrischten Johnny Thunders zur Sprache.
Viele Monde später, als die Jugend der Punks endgültig vorbei war, mussten auch diese von irgendetwas ihr Leben bestreiten, das Finanzamt schickte fordernde Bittbriefe, also ging man BWL studieren. Das Neue hatte zwar das Alte hinweggefegt, wurde dennoch schnell selbst zum alten Eisen.
Was bleibt ist die Musik. Für alle, die nicht dabei waren, liegt dem Bildband ´Geschichte wird gemacht´ ein Silberling mit Liedern von PALAIS SCHAUMBURG, ÖSTRO 430, DER PLAN, FAMILY*5, ÄRZTE und THE WIRTSCHAFTSWUNDER bei. Die Musik des Achtzigerjahre Undergrounds wird von Erzählungen, Geschichten und Bildern lebendig gehalten, den Bildern von ar/gee.
Geschichte wird gemacht: Deutscher Underground in den Achtzigern
Fotos: Ar/Gee Richard Gleim
Herausgeber: Xao Seffcheque, Edmund Labonté
Gebunden, inklusive CD mit 7 Songs
ISBN-13: 9783453272118
Umfang: 244 Seiten
Erscheinungstermin: 4.3.2019