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MARCELO AGUIRRE – Contes d’Etonnement

 ~ 2018 (EXIT) – Stil: Avantgarde ~


2018, 2019, was macht das schon? EXIT ist das Eigenlabel des argentinisch stämmigen und in Berlin wohnhaften Drummers und Experimentalmusikers Marcelo Aguirre, in der Metalszene als eingefleischter Sammler und Konzertgänger, sprich „Metalbrother“ extraordinaire und Leiter der Kapelle EVIL SPIRIT bekannt, deren beide Alben zum besten Material gehören, welches die einheimische Doom / Death-Szene jemals hervorgebracht hat. Das würde ich auch ohne persönliche Verbindung zum Maestro so schreiben.

Extremer, eigenwilliger Heavy Metal abseits aller Konventionen ist aber nur eine Seite seines Schaffens. In für mich kaum zählbaren Projekten und Kollaborationen mit namhaften Musikern der eher abseitigen Klanggefilde (RIO, Avant–Garde, Noise) hat Marcelo Aguirre, bei dessen Namen ich immer an einen verrückten Historienfilm von Werner Herzog aus dem Jahr 1972 mit Klaus Kinski in der Hauptrolle und den Soundtrack von der deutschen Elektro / Krautrock Band POPUL VUH denken muss, Klangkunst einer verstörenden Spiritualität erschaffen, die sich noch weniger in Mainstreamgefilden ausbreiten dürfte als die schon eckigen und kantigen EVIL SPIRIT. Aber das entspricht seiner Lebenseinstellung und seinem Hunger nach Musik. Grenzen setzt nur das eigene Hörvergnügen und manchmal nicht einmal das. Wir haben zuletzt eine ganze Zeit über den Sinn und Unsinn des Besitzes aller in der NURSE WITH WOUND Liste verzeichneten Alben und Bands philosophiert. Aber egal, das ist irrelevant, aber ich lese gerne meine eigenen Worte.

Kommen wir zu seiner aktuellen Soloplatte „Contes d’Etonnement“, was sich als „Geschichten des Staunens“ übersetzt. Ich staune bei dem Wissen um die musikalische Sozialisierung Marcellos nicht, es hier mit einer Platte (ltd. 150 Stück als LP) zu tun zu haben, die sich eindringlich mit weltweit vorkommender Musik aus den Tiefen und Abgründen befasst, von den Antipoden des Seins zu stammen scheint und den ganzen seichten Belanglosigkeiten des Mainstreamkonsumradios und all der Unterhaltungsmusik entschieden entgegentritt.

Die Mischung ist dabei interessant, wenngleich ebenfalls nur für Freunde der Diskussion von Belang. Freejazz, Postbop, kosmisch – krautige Klänge, japanische Gagaku und indonesische Gamelans (interessante Musikstile, exotisch für westliche Ohren, aber spannend, wenn man die Muße hat, sich damit zu befassen), wenig Rock, spirituelle Chöre, ich kann es wohl mit meinem begrenzten Horizont nicht ganz erfassen, will es aber auch nicht, sondern einfach nur auf mich wirken lassen. Gehört habe ich solche Musik selten zuvor, vielleicht bei Peter Frohmader und seinem Projekt NEKROPOLIS aus den späten 70ern und frühen 80ern. Marcelo agiert hier weniger als Melodiekünstler, mehr als Klangmaler und sein Schlagzeug respektive seine Perkussioneinlagen sind das leitende Element. Er spielt schon beinahe melodisch, erzählerisch, nimmt seine Hörer mit auf die Reise, baut wundervolle Rhythmusfiguren auf, die er sogleich wieder in sich zusammenfallen lässt und bettet diese in die bisweilen morbide Geräuschkulisse aus elektronischem Summen hier, Chorgesängen dort, sowie wehklagenden Geisterstimmen an noch anderer Stelle und allerlei nicht zu kategorisierenden Klängen ein. Das verstört, das bewegt, das durchdringt die Seele wie ein Wind aus den entferntesten Regionen der Zeit. Und abgesehen von dem offensichtlich neuzeitigen Schlagzeug könnte das auch Musik sein, die aus einer andere Ära stammt, aus einer unsagbar weit entfernten Zeit, wo titanische Wesen von nicht aussprechbarer Grausamkeit diese Welt beherrschten. Die Musik der Großen Alten aus den Horrorvisionen eines H.P. Lovecraft wäre hiermit wohl  hörbar gemacht. Das Album klingt nicht wirklich wie das Werk eines einfachen Menschen, sondern wie eine von höherer Macht dem Erschaffer übermittelte und in einem Zustand rauschhafter Gelöstheit aufgenommene Symphonie. Und für mich als verstört Zuhörenden und nicht mit dem Verstand, aber mit dem Herzen Verstehenden ist das hier ein faszinierender Rausch, der mich mit sich reißt in einen Strudel der Visionen.

Marcelo Aguirre erweist sich einmal mehr als begnadeter Schlagzeuger, der den Besten der deutschen Rock – und Jazzgeschichte ebenbürtig trommelt, zudem als großartiger kreativer Freigeist, der allein seiner inneren Welt Ausdruck verleiht. Regeln sind für ihn da um sie zu brechen. Sein Album ist erstaunlich anhörbar für eine Avant–Garde Platte, weil man sich an seinem Schlagzeugspiel festhalten kann, während um einen die vermeintliche Realität in den morbiden Abgründen von Klang und Zeit zerlegt wird. Fragt sich nur, welche Wesenheiten man von der Reise zu den Antipoden der Existenz mit sich zurückbringt. Aber das ist das Anhören dieses Albums wert.

(10 Punkte)

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