SOEN – Lotus
~ 2019 (Silver Lining / Warner Music) – Stil: Dark Progressive Metal ~
Wieder ist es Winter. Das Jahr nimmt uns gefangen, in seinem Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Zart fallen einige Flocken vom Himmel und wedeln auf den Erdboden, ohne Hoffnung zu überleben. Trotz der hohen Minustemperaturen scheint es in diesem frühen Zeitraum des Jahres keine weißen Tage zu geben. Der überheiße Sommer ist schon längst in Vergessenheit geraten. In diesem hatten die Schweden SOEN ihr neues Werk zwischen Juli und Oktober mit David Castillo und Iñaki Marconi aufgenommen. Vorausgegangen war eine sechsmonatige Zeit der Selbstfindung. Gefühle und Emotionen mussten neue Kompositionen kreieren. Eine musikalische Selbsttherapie. In der Dunkelheit, vor Einbruch der Sonne und Hitze.
In derselben Schwärze stehe ich momentan auch, scheinbar hat jemand die Stromzufuhr zu meinem Baumhaus gekappt. Ungern tappt es sich durch das nicht ganz aufgeräumte Holzhüttchen. Vorsichtig wandern die Füße um einige Stapel an Silberlingen herum und ziehen den Körper mit sich. In meiner Kochecke angekommen, greift eine Hand zielsicher in die Schublade, um ein Feuerzeug herauszuholen. Die andere erhält nun durch das Maxi-BIC-Feuerzeug aus einem günstigen Zehnerpack Licht und greift im Schrank nach einer Kerze. Mit dem brennenden Lichtspender schlürfe ich sogleich durch mein feines Etablissement und zünde die restlichen, umher stehenden Kerzen an. Obwohl erst in über drei Stunden die Turmuhr zur Mitternacht schlagen wird, ist es stockfinster, ein leichter Nebel kommt hinzu. Eigentlich wollte ich heute noch ein Pilzsüppchen kochen, doch daraus wird wohl ohne Strom erst einmal nichts. Schlimmer ist jedoch die Stille, keine Musik erschallt aus den Boxen. Aus keiner Ecke kommt Musik. Schrecklich. Ich sollte folglich zuerst der Ursache des Stromausfalls nachgehen.
Plötzlich höre ich ein Summen und Flattern. Am Fenster angekommen, sehe ich durch die Scheiben unzählige Mücken vor meinem Haus. Müssten nicht gerade die Larven in Eiern überwintern, egal ob bei minus 15 oder minus 30 Grad, in Höhlen oder Kellergewölben? Sind es Stechmücken, die, aus den feuchten, umherliegenden Wiesen angeflogen, Frühling verspüren? Und dann flattern sogar Schmetterlinge vor meinen Augen umher. Das können nur Zitronenfalter sein, die an Zweigen, völlig ungeschützt überwintern. Aber was hat all die Insekten aufgeweckt und angezogen, dass sie nun vor Tür und Fenster brummen?
Es klopft. Der gelbe Bote kann es nicht sein, der bringt nicht mehr täglich die Briefpost und ein kleines Päckchen mit Silberlingen hat er heute Morgen längst abgeliefert. Ich öffne die Tür einen kleinen Spalt, um nicht allzu viele, aufgeschreckte Flattertiere hereinzulassen. Vor der Tür wartet meine Pilzlieferantin Kaia. Ihr Besuch war überhaupt nicht angekündigt. Ich versuche mit einer Hand, die Insekten vor der Tür wegzuscheuchen, und ziehe mit der anderen Kaia zu mir hinein. Von Schneeflocken bedeckt steht sie vor mir. Es scheint tatsächlich stärker zu schneien als gedacht. Nach einer herzlichen Begrüßung bitte ich sie, Platz zu nehmen. Bevor sie sich in einem Sessel in der Wohnecke fallen lässt, hebt sie zuerst den darauf befindlichen Stapel an CDs an und legt ihn behutsam neben sich auf den Boden.
Kein Strom, keine Musik, keine Pilzsuppe, es dürfte ein trister Abend werden, sage ich zu meinem Gast. Dieser holt dennoch frohen Mutes erst einmal einige Tücher hervor, wickelt sie aus und übergibt mir neue Pilzvorräte. Während ich diese verstaue, fällt mir ein, dass ich im Unterbau des Baumhauses ein altes Dieselaggregat stehen haben. Kurzerhand entschuldige ich mich bei Kaia und verschwinde in die Dunkelheit der Nacht. Derweil widmet sich diese dem neben ihr positionierten Stapel und betrachtet eine Scheibe nach der anderen. Bei einem Digipak verweilt sie. Es ist ´Lotus´ von SOEN. Das Coverartwork, nach links und rechts aufgefaltet, zeigt ein Kindergesicht mit einem kupfernen Heiligenschein. Aus dem Mund des Mädchens scheinen Schmetterlinge zu kriechen. Hat Satan die Macht über das Kind übernommen? Die Kupferpyramide auf dem Cover selbst stellt den Mond in seinen zu- und abnehmenden Konstellationen dar. Es sollen die Elemente des sechsten Sinnes sein. Das Kind befindet sich in der Aura dessen.
Schlagartig geht das Licht an. Die Stereoanlage klickt und beginnt mit dem ersten Lied der vormals eingelegten CD. Sekunden später stapfe ich grinsend zur Tür hinein und wedele beiläufig einige Insekten von mir ab. Die Schmetterlinge auf dem Coverartwork wären keine Zitronenfalter, erwähnt Kaia und streckt mir die CD entgegen. Überrascht, aufgrund des Zusammenhangs, blicke ich abwechselnd von dem Artwork zu einem auf dem Sofatisch sitzenden Schmetterling. Ich schaffe es nur, etwas vor mich hin zu stammeln, dass wir die CD gerne einlegen und hören können. Zustimmend nickt Kaia mir zu. Da sie anscheinend SOEN nicht kennt, erzähle ich ihr etwas von der bisherigen Bandgeschichte. Dass SOEN von Schlagzeuger Martin Lopez (ex-OPETH, -AMON AMARTH) angeführt werden und gerade mit ihrem letzten Album ein Meisterwerk für den Progmetaller erschaffen haben, der die dunklen als auch die himmelhochjauchzenden Seiten der Musik mag (siehe hier). Den Vergleichen mit OPETH und TOOL sowie RIVERSIDE und KATATONIA müssen sie sich aber heutzutage nicht mehr aussetzen.
Leider ist der Gitarrist des letzten Albums, Marcus Jidell (u. a. AVATARIUM, THE DOOMSDAY KINGDOM), nicht mehr dabei, denn er musste durch den Kanadier Cody Ford ersetzt werden. Dies nimmt dem Werk womöglich ein wenig Extravaganz, und bleibt somit einen Tick hinter seinem Vorgänger zurück. Es strahlt zudem eine größere Gelassenheit aus, selbst wenn der Opener ´Opponent´ äußerst hektisch im Schlagzeugspiel auftritt. Gleichzeitig spielen SOEN natürlich die eigene große Stärke wieder aus, die sie gegenüber dem Gros aller Combos abhebt. Ewig leben sie die Brücke zum Höhepunkt (“In isolation, I slowly drown”) aus, die anderorts bereits zur Glückseligkeit reichen muss. Hier findet sich immer noch eine Steigerung, die alle Himmelsglocken läuten lässt.
Unterdessen habe ich weiterhin den Geruch der Pilze in meiner Nase. Mit dieser funktioniert die olfaktorische Wahrnehmung also bestens. Schön, wenn noch alle fünf Sinne anschlagen. Beim zweiten Song ´Lascivious´ fällt Kaia fast das Booklet aus Hand, als die Band die Rhythmusmaschinerie böllern lässt. Der Refrain (“At the end of the line, on the edge of a knife, diving into the divine”) bewegt sich erneut mit Klavieranschlägen in überirdischen Sphären. Zwischendurch kostet die Combo emotionale, zurückgenommene Augenblicke aus, ehe wieder monumentale Riffberge die Siebzigerjahre Gefühlswolken durchbrechen.
Kaia und ich sind hellwach, unsere auditive Wahrnehmung mit den Ohren klappt prächtig. Daher muss ich ihr nur kurz zuflüstern, ob sie Lust auf ein kleines Getränk hat. Tribal-Schlagzeug führt ´Martyrs´ in den Garten Eden und ich schenke vorbereitetes Ambrosia aus. Als ich ihr ein Cocktail überreiche, löst eine leichte Berührung unserer Haut bei mir einen Schauer der Erregung aus (“Spirit of the water”). Da erklingt der Titelsong ´Lotus´ im richtigen Moment. Sanft fließt er dahin, mit träumerischen Gitarren und eben solchem Gesang (“Gather around”). Beim Solo brechen alle Dämme und ergeben sich der Aura von PINK FLOYD hin. Ein Sahnestück für New Artrocker.
Ich nutze die Gunst der Stunde und schmiege mich an Kaia, wollen wir heute nicht beim Genuss der Pilzsuppe die gustatorische Wahrnehmung mit der Zunge testen. Sekunden später schmecke ich ihr Innerstes. Die Zeit scheint still zu stehen. Wie ´Martyrs´ schwingt sich ´Covenant´ zum Ohrwurm herauf, aber ich fühle mich momentan überhaupt nicht schuldig (“The sinner will die”). Mit Kaia im Arm darf der Teufel vom Sünder sprechen wie er es mag und gerne weitere Schmetterlinge aus seinem Höllenschlund herauslassen. Die Welt um mich könnte in diesem Moment aus dem Sündenpfuhl aller direkt die Apokalypse eröffnen, nichts würde mich abhalten, Kaia weiter zu liebkosen. Nie zuvor fand ich sie so begehrenswert, selbst mein fünfter Sinn, die visuelle Wahrnehmung mit den Augen scheint in bester Verfassung.
Im Baumhaus herrscht Frieden, und Liebe, da dürfen gerne die Geigen zum getragenen ´Penance´ erklingen (“Still your mind, your soul, will find peace”). In dieser Stunde ist außerdem der ruhige Beginn von ´River´ willkommen, ehe wir gemeinsam zur Musik einen Gang höher schalten. Konversation ist jetzt nicht angesagt (“All these words that I left unspoken, I will say when I met you again”). Zur Erfüllung der Vorhersage, dass das Feuer abermals brennen werde, erschallt der nächste Ohrwurm ´Rival´ (“For all the fire”) und der Abschlussreigen ´Lunacy´. Dieser Augenblick sollte nie vergehen, er wird auf ewig in unserem Gedächtnis bleiben (“In my head it ain´t over”).
Stille. Von der Musik ist zumindest nur solche zu vernehmen. Draußen flattern die Insekten am Scheibenglas. Die Tiere sind unruhig; zwei Menschen absolut geräuschlos und unbeschreiblich anschmiegsam.
(9 Punkte)
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(VÖ: 1.02.2019)