Musik, nur wenn sie laut ist…
~ Wie wir mit unserem Körper hören können ~
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist
Das ist alles, was sie hört
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist
Wenn sie ihr in den Magen fährt…
(Herbert Grönemeyer)
Wir Menschen haben fünf Sinne und hören ausschließlich mit unseren Ohren, richtig? Nein, nicht wirklich…jeder von uns Metalfans kennt doch das Gefühl, den Bass, den Rhythmus, die grollenden, tiefen Töne im Bauch und den Beinen zu spüren, oder? Dazu brauchen wir unseren Kopf überhaupt nicht.
Doch was ist mit dem Rest, mit den höheren Frequenzen, nehmen wir diese denn nicht nur über diese beiden komischen Knorpelgebilde an unserem Kopf wahr? Das würde jedoch bedeuten, dass Gehörlose von der Welt der akustischen Signale und damit auch vom Musikgenuss fast komplett ausgeschlossen wären. Fast – denn ca. 90% von ihnen haben noch eine, wenn auch meist äusserst geringe, Hörfähigkeit, und gehen daher genauso gern wie Hörende auf Konzerte und Festivals.
Viele von Euch werden dieses Video kennen, das vergangenen Sommer viral ging:
Die Gebärdendolmetscherin Lindsay Rothschild-Cross übersetzt hier mit ihrer gesamten Persönlichkeit und extrem intensivem Ausdruck LAMB OF GODs Songtexte im Vorprogramm von SLAYERs Abschiedstour in Austin, Texas. In den USA ist die Inklusion schon weiter vorangeschritten als in Deutschland, und Veranstalter sind per Gesetz verpflichtet, für einwandfreie Verständigung auch mit Menschen mit Kommunikationsdefiziten Sorge zu tragen, was meist den Einsatz von Gebärdendolmetschern bedeutet.
Dass Lindsay nicht nur den reinen Text visuell wiedergibt, sieht man auf den ersten Blick: sie zeigt zusätzlich an, welches Instrument wann Soli spielt und wie der Rhythmus gerade verläuft. Das bedeutet für sie, dass sie nicht nur Randy Blythe mit allen von ihm besungenen Emotionen verkörpern, sondern die gesamte Band darstellen muss – das ist richtig viel zu tun, und erfordert eine immense Vorbereitung. Es ermöglicht jedoch Hörgeschädigten, gleichberechtigt am Gemeinschaftserlebnis eines Konzertes teilzuhaben. Sie erleben Musik auch durch Vibration, Berührung, Lightshow und Videos, die Bewegungen der Akteure auf der Bühne und vieles mehr, also durch die Kombiation aller anderen Sinneseindrücke, die sie viel differenzierter wahrnehmen als die hörenden Zuschauer (1,4). Ein richtig guter Gebärdendolmetscher bringt jedoch noch viele weitere Zusatzinformationen rüber.
Ihre Kollegin Amber Galloway Gallego hat schon vor Jahren damit begonnen, das Gebärden weg von der reinen Anzeige, dass gerade „Musik“ gespielt wird hin zu einer rhythmischen Ganzkörper-Kunstform zu entwickeln, die dem vielschichtigen Musikgenuss mit all seinen zusammenwirkenden Effekten wesentlich mehr entspricht als die Textübersetzung allein. Einen Eindruck von dieser speziellen Musikform der (hier amerikanischen, ASL/American Sign Language, denn jedes Land hat seine eigene) Gebärdensprache gibt sie im folgenden Video:
Die Dolmetscherinnen sind dafür dankbar, dass ihnen ihre Arbeit mit tauben Musikfans eine ganz andere Sicht darauf bietet, was Musik mit Menschen bewirken kann. Sie ist eine universelle Kunstform, und bei weitem nicht nur auf Hörende beschränkt, denn es gibt auch Musiker und Komponisten, die nicht hören können.
Weithin bekannt ist, dass Ludwig van Beethoven bereits mit 28 Jahren sein Gehör verlor und trotzdem weiterkomponierte, sich jedoch aus der Gesellschaft zurückzog, da es ihm schwerfiel, an Unterhaltungen teilzunehmen – jeder Schwerhörige kennt das nur zu gut. Immanuel Kant stellte fest: „Nicht sehen trennt den Menschen von den Dingen. Nicht hören trennt den Menschen vom Menschen“. Doch so soll es nicht bleiben!
Für besseres gegenseitiges Verständnis kämpft daher auch der taube finnische Rapper SIGNMARK. Er nutzt seine Bekanntheit, um auf die Belange der Gehörlosen aufmerksam zu machen. Warum eigentlich nicht statt einer weiteren Fremdsprache einfach die Gebärdensprache erlernen? Dann versteht ihr auch, was Gehörlosenchöre gebärdend aufführen, wenn sie mit „den Händen singen“…und gebt Applaus nach Gehörlosen-Art: beide Hände in die Luft und ordentlich hin- und herschütteln! (4)
https://www.youtube.com/watch?v=Cp4Mpmv4N8c
Aber wie funktioniert nun das „Hören über den Körper“ genau? Grundsätzlich über die Wahrnehmung von durch Schall ausgelösten Vibrationen, wo auch immer im Körper diese wahrgenommen werden. Dean Shibata von der Universität von Washington in Seattle führte dazu folgendes Experiment durch: er gab hörenden und tauben Testpersonen im Kernspintomograph einen vibrierenden Stab in die Hand. Bei beiden Gruppen reagierte erwartungsgemäss diejenige Region des Gehirns, in der der Tastsinn verarbeitet wird; bei Gehörlosen wird jedoch noch zusätzlich die Hörrinde, der sogenannte auditive Cortex, angeregt.
Dass Vibrationen im Gehirn von Gehörlosen tatsächlich dieselben Regionen stimulieren wie die sonst über das Ohr weitergeleiteten Höreindrücke erklärt, wieso auch stark Hörgeschädigte Musik genauso erfahren können wie normal Hörende – es liegt an unserem faszinierenden Gehirn und seiner Plastizität, der ausgeprägten Fähigkeit, sich immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen. (3)
Besonders eindrücklich beschreibt das Dame Evelyn Glennie, dreifache Grammy-Gewinnerin und die erste Solo-Perkussionistin weltweit. Mit 8 Jahren war sie aufgrund einer Nervenkrankheit fast vollständig ertaubt, was sie jedoch nicht von ihrem Ziel, Solomusikerin zu werden, abhielt. Sie erkämpfte sich mit 16 einen Studienplatz an der Royal Academy of Music in London, die nach Glennies Aufnahme sogar ihre Statuten änderte: kein Schüler darf seitdem mehr wegen einer Behinderung abgewiesen werden, nur Begabung und Können entscheiden. Mit 20 hat sie ihre Hörgeräte endgültig abgelegt und nimmt seitdem Töne, Geräusche und Klänge über alle Sinne, jedoch vor allem den Tast- bzw. Vibrationssinn wahr, und bezeichnet ihren (Resonanz-)Körper auch als „riesiges Ohr“ (4, 5):
Bei riesigen Ohren muss ich persönlich gleich an Elephanten denken, denn in der Tierwelt gibt es weitere Beispiele für das Hören über Knochen. Die grossen Dickhäuter können Infraschall (also sehr tiefe Töne im Bereich um 20 Hertz) erzeugen, der kilometerweit durch den Erdboden weitergeleitet und von ihren Artgenossen über ein Fettkissen in den Füssen wahrgenommen, und dann über die Bein- und Schulterknochen zum Kopf weitergeleitet wird. Hören mit den Beinen, ein hocheffektives tierisches Telekommunikationssystem in der Steppe! (2)
Und riesig sind sie zwar auch, die gigantischen Wale, aber typische Ohren kennt man von ihnen nicht. Wie funktioniert jedoch Hören unter Wasser? Ihr kennt zum einen den Effekt, wie sich eure Hörwelt verändert, wenn ihr in Schwimmbad oder Badewanne untertaucht und die Geräusche von aussen nur noch sehr gedämpft erscheinen und keiner Richtung mehr zuzuordnen sind. Zum anderen wisst ihr, dass sich Wale und Dephine, die ja ursprünglich von landbewohnenden Säugetieren abstammen, über viele Kilometer hinweg durch Gesänge, Klicks und Pfiffe miteinander verständigen können. Und dies beruht wiederum auf Knochen, die den Schall aufnehmen und weiterleiten: das häutige Trommelfell wurde im Laufe der Anpassung an das Leben im Meer durch eine Knochenplatte ersetzt und mit dem Unterkieferknochen verbunden, welcher wiederum mit Ölkanälen gefüllt ist. Damit entspricht der Delphinkiefer unserem Aussenohr, das Öl leitet den Schall fast doppelt so schnell wie Wasser weiter und verschafft Flipper damit zu einem exzellenten Gehör. (2)
Wir sehen also, unsere Sinneswelt ist unglaublich vielseitig, sehr individuell und anpassungsfähig. Sie hängt vor allem davon ab, wie aufmerk- und empfindsam wir durch die Welt gehen, und wie gut wir alle Kanäle nutzen, die uns wunderbarerweise zur Verfügung stehen.
Doch manchmal ist gerade absolute Stille eine grosse Wohltat in unserer hektischen und immer lauteren Welt. Evelyn Glennie sagt dazu:
„Silence is probably one of the loudest and heaviest sounds that you’re ever likely to experience”