MARIANNE FAITHFULL – Negative Capability

Michael Haifl3. November 2018

~ 2018 (BMG/Warner) – Stil: Pop / Folk ~

Negativ ist ein viel zu lausig besetztes Wort, um der 21. Langspielplatte von Marianne Faithfull gerecht zu werden. Die 71-jährige Pop-Ikone der Wilden Sechziger Jahre stellt sich mit ´Negative Capability´ selbst die Rechnung ihres Lebens aus, ein in aller Öffentlichkeit zelebriertes Leben randvoll mit Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll. Erst stand ihre kurze Ehe mit dem Künstler John Dunbar, dann ihre jahrelange Liebesbeziehung zu Mick Jagger im öffentlichen Focus, die Trennung von ihm endete für sie im Drogensumpf, die kompletten Siebziger Jahre hindurch. Dabei hatte ´As Tears Go By´ Marianne Faithfull 1964 ins Rampenlicht geschossen, geschrieben von Mick Jagger und Keith Richards.

2018 knarzen nicht nur die Geigen und die Klavieranschläge, sondern die von Lust und Leid gezeichneten Stimmbänder Marianne Faithfulls. Alles begann für sie als 18-jährige mit ´As Tears Go By´, doch schließt ihr Welthit auch ihre künstlerische Laufbahn ab? Zumindest gibt sie auf ´Negative Capability´ bereits zum dritten Mal diese Lebensrevue in Worten zum Besten. Und nie klang der Song passender, selbst wenn die jugendliche und natürliche Schönheit für immer ihrer Erstinterpretation aus 1964 vorbehalten bleibt.

Wir leben, lieben, brechen Herzen und sterben – in dieser Schlichtheit beschreibt Marianne Faithfull am Klavier zu ´Born To Live´ das Leben, das sie selbst nach eigener Konvention genossen hat. Nimmt man ´In My Own Particular Way´ als Maßstab, muss es ein rauschend melancholisches sowie vom Schleier umranktes gewesen sein. Obwohl sie 2018 ´It’s All Over Now, Baby Blue´ von Bob Dylan zurückhaltend präsentiert, verrät sie uns ebenso wie Dylan nicht ihr “Baby Blue”, die Liebe ihres Lebens. Sie singt dabei “The sky, too, is folding over you”, im Gegensatz zu ihrer ansonsten rauchig gewordenen Stimme, dermaßen erschreckend knabenhaft. Dass sie ihr Leben noch vor sich sieht, verrät uns die abermalige Verwendung ihrer Komposition ´Witches Song´ von ihrem Comeback-Furor 1979: “Remember, death is far away, and life is sweet.”

Missverständnisse prägten das ganze Leben von Marianne Faithfull, sogar in die mysteriösen Todesumstände von Jim Morrison sollte sie ungerechtfertigterweise verwickelt gewesen sein. Und so schmettert sie ´Misunderstanding´ mit solch einem Verve, als wolle sie alles ehemalige oder noch drohende Unheil von sich abschütteln. Sie kann aber immer noch die Zigeunerin des Folk Rock geben. Nick Cave schaut im gemeinsam komponierten ´The Gypsy Faerie Queen´ vorbei, schlendert fast unbemerkt an ihrer Hand und huscht wieder davon. Ein munter verbreiteter Trübsinn, der in der Dämmerung im Nirgendwo verhallt – jedoch in kolossaler Größe erstrahlt. ´They Come At Night´ ist ein stoisches Blues-Feuerwerk, das die ganze Nacht hindurch brennt. Geschrieben mit Mark Lanegan, könnte es gemeinsam mit Robert Plant gesungen ein mehrdimensionales Ausnahme-Duett abgeben. Ein Song über die Terroranschläge in Paris, über die Schuld von Ost und West in den heutigen Erschütterungen der Gesellschaft.

Ihre Brustkrebserkrankung hat Marianne Faithfull wohl überstanden, mit anderen Leiden wie Arthritis muss sie leben. Nie zuvor hat sie ihre eigenen körperlichen Gebrechen derart in ihren Liedern zur Sprache gebracht. Mit ´Negative Capability´ steht Marianne Faithfull mitten im Leben, schenkt Abschiedslieder für heimgegangene Freunde aus, gedenkt der alten Tage und der Gegenwart. „Nur du hast solch eine Faszination!“, singt der spärliche Männerchor am Ende von ´Misunderstanding´, und könnte seinen Gesang gleichermaßen nicht auf die Aussage des Liedes gemünzt haben, sondern auf Marianne Faithfull persönlich.

(9 Punkte)