SOEN – Lykaia
~ 2017 (UDR Music) – Stil: Dark Progressive Metal ~
Bevor unser GPS aus seinem Navigationssatellitensystem allen die neuesten Aufenthaltsdaten mitteilte, aus dem mit 1.717.854 km² flächenmäßig größten, nördlichsten und westlichsten Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika, gab er ergänzend fabulöse Bekundungen über das Album des Jahres von sich, ohne natürlich, wie üblich und erwartungsgemäß, vorher seine Pflichten zu erfüllen und über das Werk ausführlich zu berichten.
Nun kreist er mit kleinen Propellermaschinen über Alaska, jagt den echten Bären nach und tagt bei GRIZZLY BEAR, denen vor kurzem die Ehre zuteilwurde, als einzige Folkrock-Band gegenwärtig zu glänzen, da MIDLAKE verloren, MUMFORD & SONS unausgegoren und FLEET FOXES nur kunterbunt musizieren. Zudem trinkt er gelegentlich einen Solstice IPA, mit einer frischen Note aus Mandarine und Zitrusfrucht, sehr easy drinking & refreshing, und schießt für das Familienalbum im Sozialen Netzwerk Fotos von kahlen, schneebedeckten Gletschern an deren Fuße Moos gedeiht. Bevor jedoch das Moos über das angesprochene Album wächst und die Pilze aus dem Boden schießen, lege ich nochmal schnell meinen Korb zur Seite, die Pilzjagd muss sich gedulden.
Den Korb im Baumhaus, um das sich die Ahornblätter herbstlich auf der Wiese tummeln, zur Seite gestellt, kann sogleich das aktuelle Werke von SOEN auf den Plattenteller gelegt werden. Und es ist fürwahr ihr bislang bestes Album geworden. Dennoch bin ich auf der Suche nach dem Nashorn, das uns auf dem Vorgänger ´Tellurian´ beiläufig entgegen blickte. Bereits mehrfach aus den Fenstern gestiert, habe ich selbst in Frau Nachbars Garten keines erblickt. Wie auf Zuruf erscheint diese gerade in diesem, im einzig richtigen Moment in der Baumhaustür, um ihr kleines, in einen Minirock, trotz der momentan gehörigen Außentemperaturschwankungen, gehülltes Popöchen auf meinem Sofa niederzulassen. Die Beine übereinander geschlagen, blickt sie mich derart an, als wolle sie sagen, dieses Gedudel passe heute überhaupt nicht zu ihrem Outfit. Gemach, gemach, halte ich ihr ungefragt entgegen und besänftige ihr Gemüt umgehend mit einem Popsicle-Cocktail, Geschmacksrichtung frisch pürierte Mango, ohne die Musik zu vernachlässigen und dezent den Lautstärkeregler nach oben zu schieben. Überhastet greift sie zum Plattencover von ´Lykaia´, verschüttet fast ihren Popsicle, und fragt mich, ob denn die Band aus Griechenland käme, da es dort in den Arkadien das Gebirge Lykaion gäbe, in dem sich früher eine Kultstätte des Zeus befand und infolgedessen Rituale abgehalten wurden. Überlieferungen zufolge konnten sich auf diesem Wolfsberg junge Männer in Werwölfe verwandeln oder diese dem Kannibalismus verfallen.
Verblüfft, aufgrund dieses Wissens, widerstehe ich der Versuchung, meine Nachbarin geradewegs zu küssen. Stattdessen hauche ich ihr ins Ohr, dass es sich hierbei um eine schwedische Gruppe handelt, die als ihren neuen Gitarristen immerhin Marcus Jidell (AVATARIUM, THE DOOMSDAY KINGDOM) gewinnen konnte und vom Songwriter und Drummer Martin Lopez (ex-OPETH, -AMON AMARTH) angeführt wird. Die Musik erfüllt zudem weiterhin den Weltenraum zwischen dem Makrokosmos von OPETH und TOOL sowie von RIVERSIDE und KATATONIA. Der Progressive Hörer muss folglich nicht nur eine rote Hauptschlagader pulsieren lassen, sondern von einer dunklen getrieben werden.
Ihr das Plattencover zärtlich aus der Hand nehmend, werde ich allerdings augenblicklich zum Tier, wacht der Wolf in mir urplötzlich auf, derweil auf einmal ein um Atem ringendes Eichhörnchen durch die nur angelehnte Tür in die Wohnstube springt, direkt vor uns auf dem Boden landet und aus seinem Blickwinkel die frisch rasierten, langen Beine meines Gastes bewundert, mit seinem Blick höher wandert und unter dem hell-lila farbenen Minirock verweilt. Schicksalhafter Weise wird es aus diesem verträumten Augenblick herausgerissen, als eine durch die Luft geflogene, unreife Kastanie an seinem Kopf landet. Von einer ganzen Horde Eichkätzchen verfolgt, stoppen diese ebenfalls abrupt vor uns ab und prallen, eins nach dem anderen, aufeinander, um in ungeordneter Reihe zu verharren.
Innerlich noch ganz erhitzt, lässt die Hitze bei diesem Anblick vor uns, in Hellrot bis Braunschwarz, langsam nach. Muss wohl wieder Paarungszeit sein, denke ich mir, wenn hier halbe Rudel Weibchen die Männchen auch außerhalb der Baumkronen verfolgen. Da ich diesen unerwarteten Gästen nicht meine letzten Pilzreserven anbieten will, werden sie mit Nüssen abgespeist und wieder in die freie Natur vor die Tür gesetzt. Freilich stieren sie, an den Fensterrahmen hängend, alsbald immer noch zu uns hinein. Die Musik scheint ihnen wohl zu gefallen, drücken sie nämlich weiterhin ihre Augen auf die Glasscheiben, weil das Wolfswerk, im Gegensatz zu den beiden Vorgängern, äußerst Hook-beladen ist. Gerne täuschen die Herren von SOEN den Weg über die Bridge nur an und schieben andere Spielereien dazwischen, verlustieren sich an Ausuferungen, um erst hernach den Höhepunkt hymnisch freizulegen. Obwohl die Brücke letztlich überquert wird, muss sich nicht zwingendermaßen anschließend die letzte Erhebung offenbaren. Geduldig soll die Freude gekostet werden, um sich an der Klimax zu laben. ´Sectarian´ (“Let the skies rain”) und ´Opal´ (“Tidal wave, come rushing all over”) sind solche Wundergrazien, mit OPETH-Feeling und TOOL-Groove, vereinzelt mit Tribal-Drums, obwohl die Affen heute nicht am Baumhaus vorbeischauen, mit überraschenden Steigerungen aufgewertet und in aller Schönheit aufgegangen. Zum Niederknien. Und in selbiger Haltung küsse ich sie. Jetzt. Unaufhörlich. Doch aus dem Player setzt diesmal unverhofft schnell der nächste, liebliche Lobgesang an. “Dead you are!”, schallt es laut aus den Boxen. Erschrocken, dass SOEN mit ´Orison´ zwar ausdauernder sind und selten dermaßen schnell zum Ziel gelangen, schießen mir bei diesen Worten die Gedanken durch den Kopf, ob nicht längst der Ehemann meiner Nachbarin mit einer Walther CCP vor der Tür stehen könnte.
Allein gegen diese Verführung kann sich niemand aufbäumen. Denn es wird noch wilder, animalischer zu orientalischen Klängen am Ende von ´Jinn´. So kann gewiss kein klarer Blick zum unbewölkten Sternenhimmel geworfen werden (“Staring at the sky, staring at the sun”). Auf Augenhöhe erkunden wir uns, so wie ´Stray´ (“Tears are in your eyes”) und ´Jinn´, die nicht die höchste Wollust eines ´Sectarian´ oder ´Opal´ entschleiern, aber wenigstens annäherungsweise. Mit orientalischem Zungenschlag und dem Rauch aus einer Shisha verwöhnt uns sodann ´Sister´ (“Sister can you hear me, Sister can you see me”), THE TEA PARTY noch 1.001 m auf Distanz haltend. Hier und jetzt beträgt der körperliche Abstand hingegen 0,0 mm. Und damit wir weiter in unserer momentanen Stellung innehalten können, erklingt ´Lucidity´ (“Rings on the water caressing your hair”), eine bluesige Nummer zum Schwelgen, die den Grundsatz bekräftigt, dass alle Musiker PINK FLOYD anbeten. Sei es Marcus Jidell an der Gitarre, sei es Joel Ekelöf am Mikrofon, der gar auf der dunklen Seite dem Himmel entgegen heult. Wer mit den Wölfen heult, muss folglich so wie SOEN analoges Equipment nutzen. Dies bewahrheitet sich nicht nur in einzelnen Liedern, sondern im gesamten Album und im finalen ´Paragon´, das uns die Nacht in akustischer Art und Weise, von einer Hammond-Orgel unterfüttert, versüßt, ehe die Gitarre stramm eingreift und sich ihren Weg bahnt. Hier will ich verweilen. Die Ewigkeit darf beginnen. Zumindest aus dieser Nacht will ich sie nie mehr entlassen (“What if I let you go, I hear a silent voice”).
(9 Punkte)