SEER – Vol. III & IV: Cult Of The Void
2017 (Art Of Propaganda) – Stil: Progressive Sludge
Ich habe ja einen dunklen Verdacht, was Bronson Lee Norton, den Sänger von Vancouvers SEER betrifft: Als Kleinkind ist er seinen Eltern bei einem Campingausflug in den tiefen nordischen Regenwäldern der Kanadischen Westküste nächtens entwischt, verirrte sich hoffnungslos, schlief schließlich völlig erschöpft an einem verwunschenen, nebelverhangenen See ein, wo er von einer Wölfin gefunden, wie ihr eigenes Blut angenommen und aufgezogen wurde. Die mit Mammutbäumen bestandenen Hänge der Cascadian Mountains wurden seine neue Heimat, im umherziehenden Rudel musste der Junge schnell lernen, durch Fauchen, Keifen und Heulen seinen Platz zu verteidigen. Erst einige Jahre später wurde er von Pilzsuchern aufgegriffen, als er bei Vollmond an ebendiesem See sein Spiegelbild betrachtete und dabei engelsgleich sang. Seine Familie nahm das Wolfskind wieder auf, Bronson wurde in die menschliche Gesellschaft resozialisiert, und gründete schließlich mit seinem älteren Bruder Madison SEER.
Auch wenn SEERs Fronter seine Geschichte nicht offiziell publik macht, ist eigentlich nur so zu erklären, woher er seine (und die Band ihre) Inspirationen bezieht, und vor allem, was für ein gesangliches Ausdrucksspektrum er nutzen kann – und er nutzt selbiges extrem gut. Vor allem mit seinem kehlig-heulenden Klargesang dominiert er SEERs Stücke – und das ist angesichts seiner exzellent varianten- und ideenreich aufspielenden Bandkollegen keineswegs einfach. Aber eines nach dem anderen …
Die im Herbst 2014 gegründeten SEER haben vor einem Jahr ihre beiden stilistisch sehr unterschiedlichen EPs als Compilation unter dem Namen ‘Vol.1 & 2’ nochmals herausgebracht. Auf dieser Platte präsentiert sich die Band zwar musikalisch schon sehr stark, jedoch beim Songwriting noch unentschlossen, wohin der Weg gehen soll. Das hat sich zwischenzeitlich deutlich geändert. Man hat sich personell mit einem zweiten Gitarristen (Peter Sacco) verstärkt, ist wesentlich im Sinne von gesteigerter Progressivität verspielter geworden, der rohe, extrem dumpf-übersteuerte Sound der ersten Alben wurde deutlich reduziert – natürlich lieben diese 20-somethings weiterhin ihre Pedalboards, doch ist auch Ihnen mittlerweile bewusst, dass sie der Strahlkraft ihrer Songs mit immer noch mehr Hall und Verzerrung keinen Gefallen tun.
Dass sich die junge Truppe selbst keinem Genre zuordnet, sondern ihre Musik als “Sonic Evokation“ bezeichnet, spricht für sich. Auch heute experimentieren sie noch sehr viel, haben aber ihren Mittelpunkt bereits gefunden. Die Songs sind komplex, oft sehr lang (wer steigt schon mit einem epischen Über-Zehnminüter – ‘Ancient Sands (Rot Preacher)’ – in sein erstes Full Lenght-Album ein, und kann es sich dabei auch noch leisten, den Gesang erst nach drei Minuten zu bringen?), aber erschließen sich dem Hörer stets durch die Geschichten, die sie erzählen, und vor allem durch die Stimmungen, die sie transportieren. Als Draufgabe entdeckt dieser bei jedem Durchlauf wieder Neues. Die Band nimmt uns mit auf eine Reise in eine wüstenartige, gebirgige, fast menschenleere Sci-Fi-Welt, die ihrem thematischen Konzept zugrunde liegt. Hörspielartige Passagen rahmen die einzelnen Songs ein, Geräusche der Elemente wie das Rauschen kosmischer Winde am Einstieg in das Album, Wasserplätschern zu Beginn von ‘III – Passage Of Tears’, oder das Knistern eines Lagerfeuers am Anfang von ‘Samsara’ werden völlig organisch miteinbezogen. Wofür MASTODON drei singende Bandmitglieder brauchen, nämlich um jedem Songpart eine andere emotionale Färbung zu geben, das erreichen SEER allein mit Brandon und, was schwarzmetallische Screams anbelangt, Gitarrist Kyle Tavares. Und die einzigartige, immer absolut stimmige Melange aus schlammig-schwerem Stoner/Doom/Sludge auf der einen Seite, sowie hoch progressivem, trotzdem immer atmosphärischem Post Metal-Liedgut mit neofolkigem Einschlag auf der anderen ergibt ein Alleinstellungsmerkmal, das SEER aus allem zumindest mir Bekanntem im metallischen Universum heraushebt. Wenn man sich die geographische Verortung der Band anschaut, passt eben, ideologisch wie musikalisch, auch der Cascadian Black Metal-Hintergrund (sie selbst nennen hier WITTR, DRUDKH u.a. als prägend) dazu: SEER sind Kinder des Pacific Northwest und von der natürlichen Kraft ihrer Umwelt stark beeinflusst. In ihrer Utopie wird die Natur in ihrer überwältigenden Schönheit genauso gepriesen wie der unveränderliche Lauf des Lebens in seiner natürlichen Grausamkeit.
Das am 07.07.17 erscheinende ‘Vol. III & IV: Cult Of The Void’ besteht seinem Namen entsprechend wiederum aus zwei Teilen mit unterschiedlichem Sound und Instrumentierung: Track 1 – 4 präsentieren eine mächtige Heavyness, die folgenden Nummern 5-7 ( ‘I: Tribe Of Shuggnyth’, ‘II: Spirit River’ und ‘III: Passage Of Tears’) sind eine alleinstehende Einheit – sehr ruhige, unplugged Songs, allein von Gitarren und bei ‘II: Spirit River’ auch etwas Synthesizer (von Bassist Josh Campbell) getragen, und der achte Song, ’Samsara’, macht seiner Bedeutung entsprechend (der immerwährende Kreislauf von Werden und Vergehen) das Ganze rund. Der hier wieder einsetzende, stark verhallte Gesang ist wie ein Heimkommen, und wenn die abschließende, akustische Implosion verhallt ist, möchte man die Reise sofort wieder von vorne beginnen.
Was dem Experimenten im Spannungsfeld Doom/Stoner, Cascadian Black Metal und vor allem auch Prog zugeneigten Hörer hier geboten wird, ist ein komplexes Gesamtpaket, das einen auf eine lange Wanderung in majestätische Berge mitnimmt, wo man an jeder Weggabelung und auf jedem Gipfel eine andere Aussicht bewundern kann. Diese Platte fräst sich mit ihrer kraftvollen Rhythmik wie eine Mure in die Gehörgänge, harscher Steinschlag von Gesang und Gitarren zwingt einen zu erhöhter Aufmerksamkeit auf den Weg, bevor die Rast am sanft gluckernden Bach einen mit epischen Melodien einlullt. Für mich in diesem Bereich DIE Neuentdeckung der letzten Zeit! Wenn die Entwicklung der Seher so weitergeht, kommt hier etwas ganz Großes auf uns zu.
Fazit: Gebt den Jungs beim nächsten Mal ein größeres Budget, mehr Studiozeit und damit die Möglichkeit, weiter an ihrem Sound zu feilen, dann nähern wir uns tatsächlich an die Höchstpunktzahl an. Innovative Ideen haben sie wahrlich genug. Für heute bleibt es bei 8,5 Punkten.