KENN NARDI – Dancing With The Past
~ 2014 (Divebomb/Tribunal Records) – Stil: Heavy Metal ~
Beginnen wir beim scheinbaren Ende. Im Jahre 1993 erschien mit `Screams And Whispers´ eine der größten Sternstunden der rockmusikalischen Geschichte. Die Schöpfer dieses Werkes – ANACRUSIS – schafften es aber leider nicht, über diesen künstlerischen Höhepunkt hinaus zusammenzubleiben. Es folgten die Jahre, in denen sich Mastermind Kenn Nardi mit seinem Projekt CRUEL APRIL künstlerisch auslebte, doch zu einer physischen Veröffentlichung kam es nie.
Oftmalige Versuche zur Reunion von ANACRUSIS verliefen im Sande, somit erging sich das Leben in Erinnerungen. Einige wenige Konzerte und Compilation-Veröffentlichungen schürten das niemals erlöschende Interesse an der Band. Als der Meister endlich jeder Bandgründung überdrüssig war, konnte schließlich ein Solo-Album in Angriff genommen werden. Dabei ist jetzt ein weit über zweieinhalbstündiges Werk herausgekommen, das mit 28 Liedern jede Erwartungshaltung und Vorstellungskraft übertrifft.
But even as I’m standing here now
It’s like I’m not of this time
Mit sanften Klavier- und Geigenklängen lässt KENN NARDI den Songreigen beginnen, doch bereits nach wenigen Sekunden zieht ein heftiges Gewitter in `Unnecessary Evil´ auf und Nardi stimmt einen himmlischen Gesang an, so dass der Hörer glaubt, über den Wolken zu schweben. Aber auch seinen rauen, harschen Gesang schiebt er zwischendurch ein und setzt eine unwahrscheinliche Energie frei, die sich sogleich in den überirdischen Melodien verfängt. Auch `Made´ vollzieht alle Wendungen zwischen glasklarem Gesang und bissigem Thrash-Geschrei inklusiver mehrerer Stimmungswechsel, die in der Historie selten so im natürlich tönendem Einklang standen wie hier.
Im Marsch-Rhythmus beginnend, schleicht sich `Armies Of One` halbballadesk langsam und unbarmherzig für immer in die Gehörgänge, während dies `Submerged´ mit seinem Maschinensound sowie irren Rhythmen noch stärker erreicht. Eingebrannt für immer ins Kleinhirn – ohne Gnade. Und `One World` versucht dies ebenfalls ohne Unterlass. `Fragile` wartet ebenso wie das infernale Instrumental `Lament In Rust` sowie ´Blinding Lies´ mit einem thrashigen Rhythmus auf, zu dem Nardi so unglaublich prägnant seinen Signature-Gitarrensound vom Stapel lässt.
`Dead Letters`, ´This Killer In My House´, `Climbing´ und ´Ordinary´ sind einfach glückselig machendes Musikalienfutter von Kenn Nardi, die nicht nur einmal, sondern unentwegt den alten Spirit am Leben halten, wobei `Straining The Frayed´ sowie vor allem das unheimlich einschmeichelnde ´A Little Light´ – einmal im Leben hören und sterben – noch viel glücklicher machen. `Untouchable´ hält wie ´Beside Myself´ zum quirligen Groove noch himmlische Chöre bereit, genauso wie ´Stabbing Sorrow´ vom Groove in die Hysterie verfällt, bis der Orkan losbricht. `Spitting Bitter` kommt lyrisch wie ein typischer Thrash-Song daher, doch der bekannte Sound hebt ihn auf eine höhere Ebene.
´The Scarlet Letter´ schlängelt sich per Klavieranschlag ebenso wie das göttliche ´Dead Men’s Bones´ in Ekstase. Ferner wollen ungefragt `Await The Setting Sun´, der Titeltrack wie auch ´Blood In The Water´ die garstige Verfolgung bis in den Schlaf aufnehmen, wobei Letzteres dazu nur einen beflügelt schnellen, einfachen Beat benötigt. Das zuerst so unscheinbare ´Creve Coeur (A Place Called Broken Heart)´ versetzt den Hörer fiebrig zuckend in einen wahren Rauschzustand. `The Telling Skies´ lässt die Glocken läuten, schreiend oder flüsternd in den nahen Wahnsinn treibend, während die Ewigkeit bei ´Symbiotic´ nicht mehr fern scheint. Dann wird es Nacht, die Sterne funkeln klar am Himmel, zärtlich fließen ´The Dark And The Light´ und zum Abschluss ´The Runt´ unter großen Emotionen dahin. Gefühle, Empfindungen, Töne – nicht von dieser Welt.
Are we finished now, forgotten how to stay alive?
Will we wait until we’ve lost the will to just survive?
Kenn Nardi hat mit ´Dancing With The Past´ sein White Album erschaffen.
(10 Punkte)